Friday, July 22, 2005

Buddhismus in Bonn. Empirische Studie über buddhistisch orientierte Gemeinschaften in Bonn.

Auszug aus den Resümes der einzelnen Kapiteln aus:
Michael A. Schmiedel. Buddhismus in Bonn. Empirische Studie über buddhistisch orientierte Gemeinschaften in Bonn. Unveröffentl. Mag.-Arbeit, Univ. Bonn, 2000.


Von meiner Magisterarbeit gebe ich hier das Inhaltsverzeichnis zusammenfassende Auszüge der Resümees der einzelnen Gruppenbeschreibungen wieder. Unten drunter folgt dann noch eine aktuellere Liste der in Bonn vorhandenen buddhistisch orientierten Gemeinschaften und Angebote.

Ich hätte die Arbeit ja gerne richtig veröffentlicht, und der Diagonal-Verlag hätte sie auch gerne genommen, aber da ich mich im Fundraising nicht verstehe, konnte ich die damals 10000 DM Druckkosten nicht aufbringen. Und ich dachte mal, man erlerne einen Beruf auch deshalb, um damit Geld zu verdienen und nicht, um noch drauf zu zahlen.

Teile der Mag.-Arbeit sind allerdings auch verwertet und veröffentlicht in:

- Theravada-Buddhismus in Bonn und Rösrath. In: Manfred Hutter (Hg.), Buddhisten und Hindus im deutschsprachigen Raum. Akten des Zweiten Grazer Religionswissenschaftlichen Symposiums (2.-3. März 2000) = Horst Bürkle und Hans-Joachim Klimkeit (†) (Hgg.), Religionswissenschaft 11, Frankfurt am Main, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2001 (Peter Lang), S. 137-156.

- Bonn Buddhist Temple und die Bonn Buddhist Association. In: Krischan Ostenrath u. Wilhelm-Peter Schneemelcher (Hgg.), Glaubenssache – Religion in Bonn, Bonn 2003 (Verlag Wissenschaftsladen), S. 164-169.

- Buddhistische Zentren West der Karma-Kagyü Linie e.V. – Zentrum Bonn. In: Krischan Ostenrath u. Wilhelm-Peter Schneemelcher (Hgg.), Glaubenssache– Religion in Bonn, Bonn 2003 (Verlag Wissenschaftsladen), S. 170-175.

- Die Bonner Zen-Gruppe von Klaus Wansleben. In: Krischan Ostenrath u. Wilhelm-Peter Schneemelcher (Hgg.), Glaubenssache – Religion in Bonn, Bonn 2003 (Verlag Wissenschaftsladen), S. 182-187.

Die beiden Bücher kann man über den Buchhandel bekommen.

"Buddhistisch orientiert" heißt, das deutlich erkennbar Bezüge zu buddhistischer Tradition, Lehre oder Praxis vorhanden sind, nicht unbedingt, dass eine buddhistische Identifikation vorliegt.

1.) Das Inhaltsverzeichnis (gänzlich ohne Formatierung, da das hier technisch nicht möglich ist) :

Einleitung 5
Kontextuelle Einleitung in das Thema 5
Beschreibung des Forschungsobjektes 7
Methodisches Vorgehen 8
Persönlicher Zugang zum Forschungsobjekt 11
Liste der buddhistisch orientierten Gemeinschaften in Bonn 14
Gliederung der Arbeit 15

Hauptteil 16

A) Die Theravada-Gruppe um Klaus Heinsch 16
Zugang 16
Geschichte 16
Organisation 17
Traditionsbezüge und Inkulturation 18
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 19
Meditations- und Andachtspraktiken 20
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 21
Persönliche Zugänge seitens der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 22
Resümee 27

B) Die Bonn Buddhist Association und der Bonn Buddhist Temple 29
Zugang 29
Geschichte 29
Organisation 31
Traditionsbezüge und Inkulturation 33
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 35
Meditations- und Andachtspraktiken 36
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 37
Persönliche Zugänge seitens der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 38
Resümee 44

C) Der Zen-Freundeskreis von Christel van den Boom 46
Zugang 46
Geschichte 46
Organisation 47
Traditionsbezüge und Inkulturation 48
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 50
Meditations- und Andachtspraktiken 51
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 53
Persönliche Zugänge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 53
Resümee 60

D) Die Zen-Gruppe Bonn der Zen Vereinigung Deutschland (ZVD) 62
Zugang 62
Geschichte 62
Organisation 62
Traditionsbezüge und Inkulturation 64
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 65
Meditations- und Andachtspraktiken 67
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 68
Persönliche Zugänge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 68
Resümee 72

E) Die Zen-Gruppe von Klaus Wansleben 74
Zugang 74
Geschichte 74
Organisation 75
Traditionsbezüge und Inkulturation 77
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 78
Meditations- und Andachtspraktiken 80
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 82
Persönliche Zugänge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 83
Resümee 91

F) Das Meditationsangebot im Stile des Zen von Wolfgang Spurzem 93
Zugang 93
Geschichte 93
Organisation 93
Traditionsbezüge und Inkulturation 94
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 95
Meditations- und Andachtspraktiken 95
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 96
Persönliche Zugänge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 97
Resümee 100

G) Die Zen-Gruppe Bonn der Association Zen Internationale (AZI) 102
Zugang 102
Geschichte 102
Organisation 103
Traditionsbezüge und Inkulturation 104
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 106
Meditations- und Andachtspraktiken 107
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 109
Persönliche Zugänge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 109
Resümee 114

H) Die Atempause – Sitzmeditation im Zen-Stil mit Körperübung 116
Zugang 116
Geschichte 116
Organisation 117
Traditionsbezüge und Inkulturation 117
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 118
Meditations- und Andachtspraktiken 119
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 120
Persönliche Zugänge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 121
Resümee 125

I) Die Buddhistische Meditations- und Gesprächsgruppe von Werner Wiegmann 127
Zugang 127
Geschichte 127
Organisation 128
Traditionsbezüge und Inkulturationen 129
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 129
Meditations- und Andachtspraktiken 130
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 130
Persönliche Zugänge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 131
Resümee 135

J) Der Soka Gakkai International Deutschland – Bereich Bonn 137
Zugang 137
Geschichte 137
Organisation 138
Traditionsbezüge und Inkulturation 140
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 142
Meditations- und Andachtspraktiken 145
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 146
Persönliche Zugänge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 147
Resümee 152

K) Das Shambhala-Zentrum Bonn 153
Zugang 153
Geschichte 153
Organisation 154
Traditionsbezüge, Inkulturationen 157
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 161
Meditations- und Andachtspraktiken 164
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 167
Persönliche Zugänge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 167
Resümee 173

L) Buddhistische Zentren West der Karma Kagyü Linie: Zentrum Bonn 175
Zugang 175
Geschichte 176
Organisation 177
Traditionsbezüge, Inkulturationen 180
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 184
Meditations- und Andachtspraktiken 188
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 192
Persönliche Zugänge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 193
Resümee 198

M) Die mahayana-buddhistische Textstudiengruppe Rhein-Sieg- Kreis/Bonn unter Alex Smejkal 200
Zugang 200
Geschichte 200
Organisation 201
Traditionsbezüge, Inkulturationen 202
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 203
Meditations- und Andachtspraktiken 206
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 208
Persönliche Zugänge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 209
Resümee 214

N) Die Buddhistische Gemeinschaft Longchen e.V. 216
Zugang 216
Geschichte 216
Organisation 216
Traditionsbezüge, Inkulturationen 218
Lehrvermittlung und Lehrinhalte 219
Meditations- und Andachtspraktiken 221
Sozialstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 221
Persönliche Zugänge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer 222
Resüme 222

O-R) Sonstige Gemeinschaften 223

Vergleichendes Resümee 225
Ausklang und Ausblick 238

Anhang 242
Fragebogen 242
Verzeichnis der Anlagen I (Feldforschungsprotokolle) 249
Verzeichnis der Anlagen II ("graue Literatur") 250
zu A) Die Theravada-Gruppe um Klaus Heinsch: 250
zu B) Die Bonn Buddhist Association und der Bonn Buddhist Temple: 250
zu C) Der Zen-Freundeskreis von Christel van den Boom: 251
zu D) Die Zen-Gruppe Bonn der Zen Vereinigung Deutschland (ZVD): 252
zu E) Die Zen-Gruppe von Klaus Wansleben: 253
zu F) Das Meditationsangebot im Stile des Zen von Wolfgang Spurzem: 254
zu G) Die Zen-Gruppe Bonn der Association Zen Internationale (AZI): 254
zu H) Die Atempause – Sitzmeditation im Zen-Stil mit Körperübung: 255
zu I) Die Buddhistische Meditations- und Gesprächsgruppe von Werner Wiegmann: 256
zu J) Der Soka Gakkai International Deutschland – Bereich Bonn: 256
zu K) Das Shambhala-Zentrum Bonn: 256
zu L) Buddhistische Zentren West der Karma Kagyü Linie e.V.: Zentrum Bonn: 260
zu M) Die mahayana-buddhistische Textstudiengruppe Rhein-Sieg- Kreis/Bonn unter Alex Smejkal: 264
zu N) Die Buddhistische Gemeinschaft Longchen e.V.: 264
zu O) Vipassanagruppe nach Goenka der Vipassana-Vereinigung e.V.: 265
zu P) Eine private Zen-Gruppe, in der ein Teilnehmer aus Werner Wiegmanns Gruppe praktiziert: 265
zu Q) Meditations- und Achtsamkeitskreis von Paul Köppler und Werner Wiegmann
in der Tradition von Thich Nhat Hanh: 266
zu R) Buddhistische Zentren West der Karma Kagyü Linie e.V.: Meditationsgruppe Bonn-Mitte: 266
Bibliographie 267
Vorarbeiten von mir 276
Abkürzungen 277
Adressen der buddhistisch orientierten Gemeinschaften in Bonn 279



II) Die Auszüge aus der Resümees der Gruppenbeschreibungen:

A) Die Theravada-Gruppe um Klaus Heinsch

Die seit 1962 bestehende Theravada-Gruppe um Klaus Heinsch ist die älteste der zur Zeit bestehenden buddhistisch orientierten Gemeinschaften Bonns. Sie ist in einer Zeit entstanden, die Martin Baumann als „Phase IV: Wiederaufbau“ bezeichnet.
Ihre besonderen Charakteristika sind ihr betontes Selbstverständnis als buddhistische Gruppe, ihr Verständnis des Pali-Kanons als ursprünglichste und maßgebliche Sammlung der Lehren des Buddha, ihre private Organisationsstruktur und ihre Betonung des höheren Stellenwertes der Meditationspraxis bei zugleich intensiv betriebenem theoretischem Studium der buddhistischen Lehre. Buddhistische Lehre und asiatische Traditionen werden voneinander getrennt, ohne deshalb asiatische Sprachen und Symbole abzulehnen. Die meisten Teilnehmer(innen) verfügen über eine gute Kenntnis des Pali-Kanon und der darin enthaltenen buddhistischen Fachtermini auf Pali und in verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten. Die geübten Meditationspraktiken sind in erster Linie Variationen der Samatha/Satipatthana/Vipassana-Meditation.
Die ausnahmslos deutschen Teilnehmer(innen) befinden sich überwiegend schon im Ruhestand, und übten zuvor verschiedene Berufe aus. Evangelische und römisch-katholische Herkunftsreligionsgemeinschaft sind gleichermaßen vertreten.
[...]
Fazit: Es handelt sich um eine überzeugte und bekennende buddhistische Gruppe mit starker Orientierung am Pali-Kanon und am Theravada-Buddhismus, aber ohne konkrete Anbindung an einen Theravada-Mönchs-Sangha, sondern mit dem Selbstverständnis, die Lehren des Buddha autonom umzusetzen.


B) Die Bonn Buddhist Association und der Bonn Buddhist Temple

Die seit 1995 bestehende Bonn Buddhist Association und der Bonn Buddhist Temple dienen in erster Linie den ethno-religiösen Bedürfnissen der in Deutschland lebenden singhalesischen Buddhist(innen), deren Anzahl diese Gemeinschaft zur mitgliederstärksten buddhistisch orientierten Gemeinschaft in Bonn macht. Deutsche Interessierte sind von daher eher ein Anhängsel und auch nur selten Vereinsmitglieder. Zwischen dem im Tempel wohnenden Mönch und den Singhales(inn)en besteht ein traditionelles Sangha-Dayaka-Verhältnis, zwischen dem Mönch und den deutschen Interessierten ein lockeres Lehrer-Schüler-Verhältnis. Gelehrt und praktiziert wird traditioneller singhalesischer Theravada-Buddhismus, der allerdings auch bei den Singhales(inn)en schon leichte Verwestlichungstendenzen aufweist. Inhaltlich scheinen die deutschen Teilnehmer an den Unterrichtsstunden stärker interessiert zu sein, sowohl was die buddhistische Lehre, als auch was die Meditationspraxis anbelangt, während die Singhales(inn)en mehr an traditionellem Brauchtum und an Pujas interessiert sind. Die im Tempel gelehrten Meditationspraktiken sind Anapanasati/Satipathana/Vipassana- und Metta-Meditation.
Die deutschen Unterrichtsteilnehmer(innen) sind überwiegend Männer zwischen Ende Zwanzig und Ende Fünfzig, mit Real- bis Hochschulabschluß und ohne erkennbare berufliche Gemeinsamkeiten, abgesehen davon, daß die beiden älteren Teilnehmer juristischen Berufen nachgehen. Sie wuchsen gleich verteilt in der evangelischen und der römisch-katholischen Kirche auf.
[...]
Fazit: Es handelt sich um eine in einer Mischung von traditionellem singhalesischem Tempel- und modernem deutschem Vereinswesen institutionalisierte Gemeinschaft, die von Singhales(inn)en und Deutschen unterschiedlich genutzt wird. Die Singhales(inn)en bekennen sich zu einem traditionellen, ethnisch geprägten Theravada-Buddhismus, die Deutschen zu einem allgemeinen, nicht so sehr schulgebundenem Buddhismus.

C) Der Zen-Freundeskreis von Christel van den Boom

Der seit 1972 bestehende Zen-Freundeskreis von Christel van den Boom ist die zweitälteste buddhistisch orientierte Gemeinschaft in Bonn. Geschichtlich gehört sie zur „Phase V: Meditations-Buddhismus“ nach Martin Baumanns Einteilung der Rezeptionsgeschichte des Buddhismus in Deutschland. Es handelt sich bei ihr indes nicht um eine buddhistische, sondern um eine sehr christlich geprägte, ihrem Anspruch nach aber über- oder transkonfessionelle Gruppe, in welcher Literatur aus verschiedenen Religionen gelesen und die konfessionsunabhängige Natur der Erleuchtung betont wird. Sie hat nach mehreren Verbindungen zu unterschiedlichen deutschen und japanischen Lehrern eine recht enge Anbindung an Willigis Jäger und das Haus St. Benedikt in Würzburg gefunden. Die interne Organisation der Gruppe hat aber eher privaten Charakter. Geübte Meditationspraktiken sind Zazen und Kinhin.
Die meisten Teilnehmer(innen) sind über 50 Jahre alt und teilweise schon im Ruhestand. Höhere Schulabschlüsse überwiegen, die erlernten Berufe bewegen sich zumeist in den Bereichen Verwaltung, Medizin, Ingenieurwissenschaften. Als Herkunftsreligion überwiegt die römisch-katholische Kirche. Alle Teilnehme(innen) sind Deutsche.
[...]
Fazit: Es handelt sich um eine ausdrücklich nicht-buddhistische, die Transkonfessionalität meditativer Erfahrung betonende, über das christliche Haus St. Benedikt an die zen-buddhistische Sanbo Kyodan-Schule locker angeschlossene Gruppe.



D) Die Zen-Gruppe Bonn der Zen Vereinigung Deutschland (ZVD)

Die seit 1990 bestehende Bonner Zen-Gruppe der Zen Vereinigung Deutschland ist von Anfang an eine Filiale der genannten Dachorganisation, wobei aber nur wenige Teilnehmer(innen) der Gruppe auch ZVD-Mitglieder sind. Es ist eine Gruppe in der Soto-Zen-Tradition. Japanische Traditionsbezüge fallen sofort ins Auge, wenn sie im Selbstverständnis der Gruppe auch nicht so wichtig sind. Die buddhistische Identifikation wird nicht sehr betont, ist aber in zahlreichen Bezeichnungen und in den Lehrinhalten immer gegenwärtig, wenn bisweilen auch mystisch-christliche oder -islamische Texte verwendet werden. Es gibt jedenfalls keine christlich-kirchliche Anbindung irgendeiner Art. Geübte Meditationspraktiken sind Zazen und Kinhin, eingerahmt in ein strenges Ritual mit Gasshos, Altarschmückung und Sutrenrezitation.
Die zwei ausgefüllten Fragebögen sind nicht repräsentativ für die fünf bis zehn Teilnehmer(innen), so daß ich bezüglich der Sozialstruktur hier nur zusammenfassend sagen kann, daß die meisten Teilnehmer(innen) zwischen 30 und 50 Jahre alt und wohl alle Deutsche sind.
[...]
Fazit: Es handelt sich um eine zugleich viel Buddhistisches rezipierende, sich aber nicht durchweg als buddhistisch verstehende, aber doch in einer konkreten zen-buddhistischen Traditionslinie stehende Gemeinschaft.

E) Die Zen-Gruppe von Klaus Wansleben

Die Zen-Gruppe von Klaus Wansleben ist eine locker an Willigis Jäger und die Sanbo Kyodan-Schule angebundene überkonfessionelle Zen-Gruppe. Sie entstand 1991 auf Anfrage zweier römisch-katholischer Institutionen und übt auch in kirchlichen Räumen. Die Transkonfessionalität meditativer Erfahrung wird betont. Zen-buddhistsiche Lehrinhalte werden stark rezipiert, zusammen mit mystischen aus verschiedenen Religionen. Diese werden zumeist evolutionstheologisch interpretiert. Japanische zen-buddhistische Fachtermini und die Verwendung von Zafus sind die auffälligsten Adaptionen japanischer Kultur. Geübte Meditationspraktiken sind Zazen, Kinhin und Koanschulung.
Die meisten Teilnehmer(innen) sind Student(inn)en in den Zwanzigern und Dreißigern, und überwiegend sind sie römisch-katholisch aufgewachsen, und fast alle sind Deutsche.
[...]
Fazit: es handelt sich um eine überkonfessionelle Gruppe mit organisatorischer Anbindung an die römisch-katholische Kirche und Traditionsanbindung an die zen-buddhistische Sanbo Kyodan-Schule. Vermittelt wird ein mystisch-evolutionstheologisches Verständnis von Zen im Besonderen und Religion im Allgemeinen. Die persönlichen Zugänge der Teilnehmer(innen) sind eher individualistisch und ergeben ein heterogenes Gruppenbild. Identifizierungen mit dem Buddhismus als Religion sind trotz teilweiser Übernahme buddhistischer Lehrinhalte sehr selten.


F) Das Meditationsangebot im Stile des Zen von Wolfgang Spurzem

Das mit Unterbrechung seit 1992, in dieser Form seit 1997 bestehende Meditationsangebot von Wolfgang Spurzem ist ein von jeder Anbindung an eine Dachorganisation oder an eine Religionsgemeinschaft freies Angebot. Es ist inspiriert durch die Meditation im Stile des Zen von Graf Dürckheim, und von daher ist auch der Zen-Begriff und das Ritual übernommen, aber ansonsten gibt es keine Traditionsanbindung zum Buddhismus oder nach Japan. Es wird keine Lehre vermittelt, da man zu der Einsicht kommen müsse, daß es nichts zu vermitteln und nichts zu erreichen gebe. Die Meditation im Stile des Zen wird als Therapie gesehen, mit dem Ziel, sich zu entspannen und zu lernen, sich nicht zu wichtig zu nehmen.
Es ist eine kleine Gruppe, so daß selbst drei ausgefüllte Fragebögen für sie repräsentativ sein können. Die Teilnehmer(innen) sind alle über vierzig, teilweise über siebzig Jahre alt. Schulabschlüsse und Berufe sind sehr heterogen. Vorwiegend sind die Teilnehmer(innen) römisch-katholisch aufgewachsen. Alle sind Deutsche.
[...]
Fazit: Es handelt sich um ein nirgends angebundenes, keine einheitliche Lehre vertretendes, eher der Gesundheit dienen sollendes Meditationsangebot im Stile des Zen mit großenteils, aber nicht ausschließlich nicht sonderlich religiös interessierten Teilnehmer(inne)n. Es existiert aber eine kaum erkennbare mahayana-buddhistische Beeinflussung.

G) Die Zen-Gruppe Bonn der Association Zen Internationale (AZI)

Die seit 1994 bestehende Bonner AZI-Zengruppe ist eine Filiale der Association Zen Internationale und von daher angeschlossen an die zen-buddhistische Soto-Schule. Sie hat von daher ein strenges Ritual übernommen, das bis zur speziellen Zen-Kleidung reicht, und ansonsten Altardienst und Sutrenrezitationen umfaßt. Bezüge zum Buddhismus sind zahlreich, trotzdem wird Zen als vom Buddhismus letztlich unabhängige Meditationsform vermittelt. Geübt werden Zazen und Kinhin.
Über die Sozialstruktur und die persönlichen Zugänge vermag ich wenig auszusagen, da nur zwei Fragebögen ausgefüllt wurden, wovon einer ohne den Teil I zurück kam. Die Teilnehmer(innen) sind überwiegend Studierende in den Zwanzigern und Dreißigern.
[...]
Fazit: Es handelt sich um eine zur AZI gehörende, nicht ausdrücklich buddhistische, aber der zen-buddhistischen Soto-Schule zugehörende Gruppe, deren Teilnehmer(innen) recht unterschiedliche persönliche Zugänge zum Buddhismus haben.


H) Die Atempause – Sitzmeditation im Zen-Stil mit Körperübung

Die von 1994 bis 1999 von Uwe Hackbart geleitete Atempause – Sitzmeditation im Zen-Stil mit Körperübung war die einzige Zen-Gruppe, die der Rubrik „christliches Zen“ zuzuordnen ist. Sie war ein offizielles Angebot der evangelischen Kirche mit sofort erkennbaren christlichen Inhalten, wenn auch die Meditation aus dem Zen-Buddhismus und die Körperübungen aus dem Taoismus kamen. Bezüge zum Buddhismus waren sehr oberflächlich und wurden gar nicht als solche kenntlich gemacht. Die Teilnehmer(innen) waren hauptsächlich Laufkundschaft, was auch ein Grund für den geringen Rücklauf der Fragebögen war. In welcher Form sie nun unter Stefen Lübe weitergeführt wird, ist mir noch nicht bekannt.
Die ausgefüllten Fragebögen geben also kein repräsentatives Bild wider. Sie zeigen eine recht heterogene Sozialstruktur, bei der lediglich der zumeist ledige Familienstand, der überwiegende Hochschulabschluß, die fast allen gemeinsame evangelische Herkunfstreligionsgemeinschaft und deutsche Nationalität (ein Österreicher) gemeinsam sind.
[...]
Fazit: Es handelte sich um ein christliches Meditationsangebot im Stile des Zen, das keineswegs nur Christ(inn)en offen stand. Die Teilnehme(innen) kamen denn auch aus unterschiedlichen religiösen Hintergründen, standen buddhistischen Lehraussagen eher ablehnend oder nicht verstehend gegenüber, bejahten aber buddhistische Zielvorstellungen. Einer nannte gar einen tibetisch-buddhistischen Lama seinen Lehrer.

I) Die Buddhistische Meditations- und Gesprächsgruppe von Werner Wiegmann

Die seit 1996 bestehende Buddhistische Gesprächs- und Meditationsgruppe von Werner Wiegmann ist eine schulübergreifende buddhistische Gemeinschaft, die aber auch Nichtbuddhist(inn)en offen steht. Werner Wiegmann ist Funktionär in der DBU, die Gruppe ist aber selbständig. Vermittelt werden vornehmlich, aber nicht nur, zen-buddhistische Lehrinhalte. Die geübten Meditationspraktiken sind Zazen und Kinhin im Soto-Stil.
Die Teilnehmer(innen) sind überwiegend über 60 Jahre alt, haben einen Hochschulabschluß und sind bzw. waren in Berufen aus dem juristischen, schulischen, psychologischen und journalistischen Bereich tätig.
[...]
Fazit: Es handelt sich um eine buddhistische Gruppe mit Orientierung an der DBU und am Soto-Zen, deren Teilnehmer(innen) der buddhistischen Identität gegenüber eine differenzierte Einstellung haben.

J) Der Soka Gakkai International Deutschland – Bereich Bonn

Der 1975 als Gruppe entstandene und 1995 zu einem Bereich ernannte Soka Gakkai Internationale Deutschland (SGI-D) – Bereich Bonn ist eine regionale Sub-Organisation innerhalb der SGI-D mit seinerseits untergeordneten Gemeinschaften (Bezirke und Gruppen). Er bildet mit ca. 60 Mitgliedern die stärkste buddhistisch orientierte Gemeinschaft in Bonn, wenn sie auch als solche öffentlich nicht auffällt und kaum bekannt ist. Sie ist ein Teil der von Japan aus organisierten Sokka Gakkai International (SGI), welche wiederum eine nichiren-buddhistische Laienorganisation ist. Es werden nichiren-buddhistische Lehrinhalte vermittelt, die sich in markanten Punkten von ansonsten allgemein-buddhistischen Lehrinterpretationen abheben. Die geübten Meditationspraktiken sind Gongyo und Daimoku. Es ist die einzige in meiner Studie behandelte Gemeinschaft, die keine Meditation aus dem Bereich der Geistberuhigungs- und Achtsamkeitsmeditationen übt.
Die zwei ausgefüllten Fragebögen sind nicht repräsentativ für die ganze Gemeinschaft. Ich habe indes den Eindruck gewonnen, daß alle Altersgruppen vertreten sind, da ganze Familien Mitglieder sind. Nach anfänglicher Gründung von Japanern und internationaler Mitgliedschaft in Bonn, sind heute fast alle Mitglieder Deutsche.
[...]
Fazit: es handelt sich um eine überzeugt buddhistische Gemeinschaft mit internationaler organisatorischer Einbindung und nichiren-buddhistischer Schulanbindung.


K) Das Shambhala-Zentrum Bonn

Das seit 1981 bestehende Shambala-Zentrum Bonn ist eine Filiale von Shambhala International mit Hauptsitz in Kanada und dem tibetischen Lama Sakyong Mipham Jampal Trinley Dradül Rinpoche als Oberhaupt und seit 1999 ein e.V.. Sie hat ein dreifaches Lehr- und Praxisangebot, dessen einer Teil (Vajradhatu) sich auf die tibetisch-buddhistische Njingma-Kagyü-Tradition beruft, während der zweite (Shambhala) und dritte (Nalanda) Teil sich an allgemein-, vor allem tibetisch- und japanisch-zen-buddhistischer Kultur orientiert. Im Vajradhatu-Tor gibt es auch eine Vajrayana-Schulung für Buddhist(inn)en, während die beiden anderen Tore auch Nicht-Buddhist(inn)en offen stehen. Es werden mahayana- und vajrayana-buddhistische Lehrinhalte vermittelt. Die hauptsächlich geübte Meditationspraxis ist Shamatha/Vipashyana, innerhalb des Vajraydhatu-Tores mit, innerhalb des Shambhala-Tores ohne Textrezitationen. Jedes Tor hat einen Schrein, der mit reichhaltiger buddhistischer Symbolik versehen ist.
Die fünf ausgefüllten Fragebögen sind nicht repräsentativ. Es sind alle Altersgruppen zwischen 30 und über 60 vorhanden und einige Familien haben auch Kinder. Schulabschlüsse aller Art und sehr verschiedene Berufe sind vorhanden. Evangelische und römisch-katholische Herkunftsreligionsgemeinschaft kommen ca. gleich oft vor.
[...]
Fazit: Es handelt sich um eine an eine internationale Organisation angebundene, teils an der tibetisch-buddhistischen Nyingma-Kagyü-Tradition, teils allgemein am Mahayana-Buddhismus orientierte Gemeinschaft. Die buddhistische Identität der Mitglieder ist recht hoch, aber teilweise auch differenziert.


L) Buddhistische Zentren West der Karma Kagyü Linie: Zentrum Bonn

Das Buddhistische Zentrum der Karma Kagyü Linie Bonn war eine Filiale des Karma Kagyü Dachverbandes (KKD), welcher wiederum Teil eines weltweiten Netzwerkes von Karma Kagyü Zentren ist. Es stand in der Tradition der tibetisch-buddhistischen Karma Kagyü Schule und innerhalb dieser in der Fraktion, deren Oberhaupt der 17. Karmapa Thaye Dorje ist. Das Bonner Zentrum existierte von 1990 bis 2000 und hat durchschnittlich ca. 20 Mitglieder, wobei durch die Neugründung der Meditationsgruppe Bonn-Mitte 1999 diese Mitgliederzahl auf ca. zehn schrumpfte. Tibetische Tradition wurde vermittelt, solange sie für die Vermittlung buddhistischer Lehre nützlich erschien, aber es herrschte eine starke Tendenz der Inkulturation in westliche Vermittlungsweisen. Es wurden vajrayana-buddhistische Lehrinhalte vermittelt. Geübte Meditationspraktiken waren in erster Linie solche aus dem Bereich des Guru-Yoga, also Visualisationen von Buddha-Aspekten, Rezitationen von Mantras, Ngöndro und überregional auch Phowa, nicht dagegen Shine/Lhagtong.
Die drei ausgefüllten Fragebögen sind nicht repräsentativ, so daß ich mich im folgenden auch auf andere Informationen stütze. Die Mitglieder waren zumeist in den Dreißigern. Schulabschlüsse und Berufe waren verschieden. Die Herkunfstreligionsgemeinschaften waren ca. zu gleichen Teilen die evangelische und die römisch-katholische Kirche.
[...]
Fazit: Es handelte sich um eine überzeugte buddhistische Gemeinschaft, die Teil des deutschen KKD und des internationalen Netzwerkes von Karma Kagyü Zentren war und in der tibetisch-buddhistischen Karma Kagyü Tradition stand. Die Mitglieder sind zumeist bekennende Buddhist(inn)en, aber es gibt auch Teilnehmer(innen) mit differenzierendem Zugang.

M) Die mahayana-buddhistische Textstudiengruppe Rhein-Sieg-Kreis/Bonn unter Alex Smejkal

Die mahayana-buddhistische Textstudiengruppe Rhein-Sieg-Kreis/Bonn von Alex Smejkal war eine eigenständige, locker an Chödzong und am tibetischen Mahayana-Buddhismus orientierte Gruppe, die von 1997 bis 1999 existierte. Die ca. acht regelmäßigen Teilnehmer(innen) studierten gemeinsam Texte tibetisch-buddhistischer Lehrer in deutscher Übersetzung. Geübte Meditationspraktiken waren Shamatha/Vipashyana und Tonglen.
Die Teilnehmer(innen) waren zwischen Mitte Dreißig und Mitte Vierzig, hatten überwiegend einen Hochschulabschluß und waren in pflegerischen, geisteswissenschaftlichen, kaufmännischen oder künstlerischen Berufen tätig. Sie waren überwiegend römisch-katholisch aufgewachsen und Deutsche (ein Österreicher).
[...]
Fazit: Es handelte sich um eine selbständige, überzeugt buddhistische Gruppe mit tibetisch-mahayana-buddhistischer Ausrichtung.

N) Die Buddhistische Gemeinschaft Longchen e.V.

Die Buddhistische Gemeinschaft Longchen ist ein e.V. mit Sitz in Bonn mit bundesweit ca. 20, in Bonn drei Mitgliedern. Sie existiert seit 1994 und ist eine Schwesterorganisation der englischen Longchen Foundation, deren Leiter, der Engländer Rigzin Shikpo, auch der spirituelle Leiter der deutschen Gemeinschaft ist. Es ist eine mahayana-buddhistische Gemeinschaft und orientiert an der tibetisch-buddhistischen Nyingma/Kagyü-Tradition. Vermittelt werden maha- und vajrayana-buddhistische Lehrinhalte. Geübte Meditationspraxis ist hauptsächlich Shamatha/Vipashyana. Persönlich Daten über die Mitglieder habe ich fast keine. Buddhistische Identifikation mit Zuflucht überwiegt.
Fazit: Es handelt sich um eine bekennende buddhistische Gemeinschaft in der tibetisch-buddhistischen Nyingam/Kagyü-Tradition.

O-R) Sonstige Gemeinschaften

O) Vipassanagruppe nach Goenka der Vipassana-Vereinigung e.V

Es handelt sich um eine Gruppe mit drei Teilnehmern unter der Leitung von Mudar Mannah. Sie praktiziert die Vipassana-Meditation nach S.N. Goenka, einem indischen Geschäftsmann und Schüler des burmesischen Regierungsbeamten und Familienvater U Ba Khin (1899-1971). Sie ist angeschlossen an die Vipassana-Vereinigung e.V. und versteht sich nicht als buddhistische Gemeinschaft, sondern praktiziert Vipassana als religionsunabhängige Meditationstechnik. Sie treffen sich zu Hause bei Mudar Mannah.


P) Eine private Zen-Gruppe, in der ein Teilnehmer aus Werner Wiegmanns Gruppe praktiziert

Es handelt sich um einen ganz privaten Meditationskreis mit sechs bis acht Teilnehmer(innen), die sich Montagsabends reihum in ihren Privatwohnungen treffen. Der Kreis hat keinen Leiter.


Q) Meditations- und Achtsamkeitskreis von Paul Köppler und Werner Heidenreich in der Tradition von Thich Nhat Hanh

Seit September 1999 bieten Paul Köppler, Leiter des Waldhauses am Laacher See, Vorsiztender des Buddhismus im Westen e.V. und Ratsmitglied in der DBU und Werner Heidenreich, Leiter des StadtRaumes Köln, die beide Mitglieder des Intersein-Ordens des vietnamesichen Zen-Meisters Thich Nhat Hanh sind, im Albert-Schweitzer-Haus in Bonn Bad-Godesberg einen Meditations- und Achtsamkeitskreis in der Tradition Thich Nhat Hanhs an. Sie leiten abwechselnd die Gruppe, die mittlerweile auf 10 bis 15 regelmäßige Teilnehmer(innen) angewachsen ist und sich wöchentlich dienstags von 19 bis 21 Uhr tifft.

R)Buddhistische Zentren West der Karma Kagyü Linie e.V.: Meditationsgruppe Bonn-Mitte

1999 gründeten die Mitglieder des Karma Kagyü Zentrums Bonn Anna Bach und Christoph Baur diese Meditationsgruppe, da sie sich im Zentrum nicht mehr wohl gefühlt hatten. Die Gruppe wird mittlerweile von 10 bis 15 Teilnehmer(innen) besucht. Seit der Schließung des Karma Kagyü Zentrums Bonn am 24.4.2000 stellt die Meditationsgruppe Bonn-Mitte die alleinige Vertretung des BDD in Bonn dar. Zu weiteren Informationen vgl. das Kapitel L) Buddhistische Zentren West der Karma Kagyü Linie: Zentrum Bonn.


***

III) Adressen der buddhistisch orientierten Gemeinschaften in Bonn:

Seit Fertigstelltung der Magisterarbeit im Mai 2000 hat sich die Szene ein wenig verändert. Hier eine aktuelle Adressliste, der derzeit in Bonn bestehenden buddhistisch orientierten Gemeinschaften und Angebote:

Wissenstand am 22.07.2005
recherchiert von Michael A. Schmiedel, M.A.
Religionswissenschaftler



Die Liste beinhaltet buddhistisch orientierte Gemeinschaften, die ich in meiner Magisterarbeit beschrieben habe und ein paar mehr und ist geordnet nach den Traditionskategorien Theravada, Vipassana, Zen, Nichiren-Buddhismus und Tibetischer Buddhismus/Vajrayana und schulübergreifende Gruppen und innerhalb jeder Kategorie nach Gründungsdatum. Außer Bonn ist auch eine Gemeinschaft in Erpel aufgeführt.
„Buddhistisch orientiert“ bedeutet nicht unbedingt „buddhistisch“.
Die Liste könnte noch unvollständig sein. Weitere Adressen nehme ich gerne entgegen.


Theravada:

Theravada-Gruppe um Klaus Heinsch
Klaus Heinsch, Elbingstraße 6,
53117 Bonn Buschdorf,
Tel.: 0228-671752.

Bonn Buddhist Association und Bonn Buddhist Temple
Bonn Buddhist Temple,
Friesdorferstraße 75,
53173 Bonn-Bad Godesberg,
Tel.: 0228-318844
http://www.buddhaweb.de/body_bonn.htm


Vipassana:

Vipassanagruppe nach Goenka der Vipassana-Vereinigung e.V
Mudar Mannah,
Ferdinandstrai3e 66,
53127 Bonn,
Tel.: 02289287049


Zen:

Zen-Freundeskreis von Christel van den Boom Christel van den Boom,
Sanbo Kyodan Schule
Saalestraße 4,
53127 Bonn-Ippendorf,
Tel.: 0228-285549.

Zen-Gruppe Bonn der Zen Vereinigung Deutschland (ZVD)
Soto Schule
Wolfgang Foit,
Am Hang 10,
53229 Bonn-Holzlar,
Tel.: 0228-431329.
http://www.zen-vereinigung.de/

Zen-Gruppe von Klaus Wansleben
Sanbo Kyodan Schule
Klaus und Hildegard Wansleben,
Newtonstraße 5,
53125 Bonn,
Tel.: 0228-2805506.
E-Mail: HKWansleben@aol.com
http://www.littleway.de

Zen-Gruppe Bonn der Association Zen Internationale (AZI)
Soto Schule
Leitung: Daniel Lehmacher,
Tel.: 0170-2962224.
- Begegnungsstätte "Offenen Tür",
Münsterstr. 21,
53111 Bonn.
http://www.zen-azi.org

Buddhistische Meditations- und Gesprächsgruppe von Werner Wiegmann
Werner Wiegmann,
Villiper Allee 58,
53125 Bonn-Röttgen,
Tel.: 0228-254675,
Fax: 0228-258097
E-Mail: wiegmann-mediation@t-online.de


Nichiren Buddhismus:

Soka Gakkai International – Deutschland: Bereich Bonn
c/o Bernhard Hantel
Remigiusplatz 1
53111 Bonn
Tel.: 0228-9652353
http://www.sgi-d.org


Tibetischer Buddhismus / Vajrayana:

Shambhala-Zentrum Bonn
Nyingma Kagyü Schule
Karmeliter Str. 1 b,
53229 Bonn-Beuel,
Tel.: 02222-0209008 (Theo von Heukelom)
E-Mail: marita@weuthen.de, h.kraechan@t-online.de
http://www.shambhala.org/centers/bonn/
Das Shambhala-Zentrum Bonn ist im Juli 2005 nach Köln umgezogen und hat sich mit dem Kölner Zentrum verbunden.

Buddhistische Gemeinschaft Longchen e.V.
Nyingma Kagyü Schule
Irmentraud Schlaffer,
Samanstraße 13,
53227 Bonn-Ramersdorf,
Tel.: 0228-440202.
E-Mail: I.Schlaffer@t-online.de
bzw.
Regine Simovics, E-Mail: regsim@aol.com
http://www.longchen.de/


Buddhistische Zentren der Karma Kagyü Linie West: Zentrum Bonn
c/o Christoph Baur, Anna Bach
Kaiserstr. 107
53113 Bonn,
Tel.: 0228-210943,
Fax.: 0228-2420563
E-Mail: bonn@diamondway-center.org
http://www.buddhismus-bonn.de


Schulübergreifende Gemeinschaften:

Haus Siddharta
Zentrum für die Praxis der Achtsamkeit
Buddhismus im Westen e.V.
Dr. Paul Köppler
Denglerstraße 22
D-53173 Bonn
Tel. 0226-9359369
E-Mail: pamib@t-online.de
http://www.buddhismus-im-westen.de/

Buddhistische Hochschulgruppe Bonn
c/o Susanne Petri
E-Mail: bhsg@uni-bonn.de
http://www.uni-bonn.de/~bhsg/


Paramita-Projekt
Heilsame Schritte auf dem Weg des Erwachens
Buddhistische Meditations- und Themenkurse
mit Yesche U. Regel und Angelika Wild-Regel
in der
Praxis für Achtsamkeit, Entspannung,
Meditation und Stressbewältigung
Clemens-August-Str. 17, 53115 Bonn-Poppelsdorf
(Nähe Botanischer Garten)
Tel. 0228-908 6860 und 02655-962 840
e-Mail: yesche@t-online.de
http://www.yesche.de/
http://www.paramita-projekt.de
http://www.stressbewaeltigungbonn.de



Zusätzlich hier noch eine Gemeinschaft in Erpel:

Tibetisch Buddhistisches Zentrum Rheinland e.V.
Thoesam Ling
Hospitalgasse 11
53579 Erpel
Resident Lama: Geshe Nawang Thapkhe
Tel.:/ Fax: 02644 - 808200
E-mail: Bernhild.A@t-online.de

Tuesday, April 19, 2005

Der interreligiöse Dialog als Aufgabe einer angewandten Religionswissenschaft

Der interreligiöse Dialog als Aufgabe einer angewandten Religionswissenschaft

Diesen Vortrag hielt ich im September 2003 auf der Tagung der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte (DVRG) in Erfurt innerhalb des von Prof. Dr. Hubert Seiwert geleiteten Panels Angewandte Religionswissenschaft. Leider gab es keinen Tagungsband und auch keine Sonderveröffentlichung dieses Panels, so dass ich meinen Text vorerst hier veröffentliche. Da die Fußnoten hier nicht korrekt wiedergegeben werden können, habe ich sie mit Fn in Klammern hinter der jeweiligen Stelle gekennzeichnet und unter den Text als Endnoten gestellt.

Vorausabstract:

In religionswissenschaftlichen Kreisen wird der interreligiöse Dialog meistens als eine Angelegenheit der Theologie und ein religionswissenschaftliches Engagement darin als dem wertneutralen Selbstverständnis des Faches abträglich betrachtet. Die Religionswissenschaft könne und dürfe sich dem interreligiösen Dialog nur widmen, indem sie ihn zu einem Forschungsobjekt mache, aber keinesfalls dürfe sie sich aktiv und normativ daran beteiligen, heißt es oft.
Dieser Vortrag vertritt eine andere Auffassung und versucht sinnvolle Argumente für eine Beteiligung der Religionswissenschaft am interreligiösen Dialog zusammenzutragen. Religionswissenschaft wird, wie Wissenschaft im Allgemeinen, als der Gesellschaft verantwortlich beurteilt, was eine letztliche Wertfreiheit ausschließt. Der interreligiöse Dialog wird als eine Angelegenheit bewertet, die keinesfalls nur die offiziellen Vertreter religiöser Institutionen, ja auch noch nicht mal nur religiös gläubige Menschen angeht, sondern als eine gesellschaftliche Aufgabe, die notwendig ist, um ein friedliches Miteinanderleben von Menschen und Subgesellschaften in der globalen, multikulturellen und pluralistischen Weltgesellschaft zu ermöglichen. Da nun im interreligiösen Dialog, ähnlich wie in der politischen Diplomatie, Interessengruppen aufeinanderstoßen, sind Apologetik und Polemik ebenso anzutreffen, wie verstehenwollendes Zuhören. Gerade weil die Religionswissenschaft unabhängig von den religiösen Institutionen ist, kann sie hier korrigierend eingreifen, und unter methodischem Verzicht auf metaphysische Wahrheitsbehauptungen den Bereich des Diesseitig-Menschlichen zu seinem Recht kommen lassen und Ergebnisse aus religionsgeschichtlichen, -soziologischen und -psychologischen Forschungen moderierend und vermittelnd ins Gespräch einbringen. Es geht also gerade nicht darum, eine religiöse Partei im Dialog zu vertreten, sondern die Funktion der Moderation, Mediation und der unparteiischen Begutachtung zu übernehmen. Partei ergreifen darf und soll die Religionswissenschaft aber sehr wohl für eine Vision einer friedlichen und pluralistischen Gesellschaft und einer ehrlichen und selbstkritischen Gesprächskultur, die auch Grundlagen ihrer eigenen Existenz sind. Dieser Vortrag vertritt also sehr wohl die Utopien des Projektes Weltethos von Hans Küng oder der World Conference on Religion and Peace und beklagt zugleich, dass Religionswissenschaftler(innen) in diesen und ähnlichen Projekten zu wenig vertreten sind. Peter Antes, Mitbegründer des Vereins zur Förderung der Begegnung der Weltreligionen und des interkulturellen Gesprächs e.V., Michael von Brück, der die leider wieder eingestellte Zeitschrift Dialog der Religionen mit heraus gegeben hat, und Norbert Klaes, der eine Zeit lang Präsident von WCRP Europa war, sind aber gute Beispiele von namhaften Religionswissenschaftlern, die sich als solche im interreligiösen Dialog betätigen, ohne die Religionswissenschaft dadurch zu einer Pseudotheologie werden zu lassen.

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Volltext:

Als ich 1993 begann, Religionswissenschaft zu studieren, begleitete und motivierte mich bereits die Idee, dass ein Dialog der Religionen einen wesentlichen Beitrag für das friedliche Miteinanderleben der Menschen leisten könne. Die Religionswissenschaft schien mir die Wissenschaft zu sein, die noch besser als die Theologie diesem Dialog dienen könne, da Theologen die Dinge zu sehr aus der mehr oder weniger engen Perspektive ihrer je eigenen Religion her betrachteten, während die Religionswissenschaft fähig zu sein schien, das ganze Panorama unvoreingenommen im Blick zu haben.

Und doch lernte ich so ziemlich als aller erstes, dass der interreligiöse Dialog keine Angelegenheit der Religionswissenschaft sei, denn welche Partei im Dialog sollte die Religionswissenschaft denn vertreten, da es doch ihr Anspruch war, sich aus der Beurteilung religiöser Wahrheitsansprüche heraus zu halten, und im Dialog gehe es doch um religiöse Wahrheitsansprüche. Die Religionswissenschaft könne den interreligiösen Dialog wissenschaftlich untersuchen, aber sich nicht daran beteiligen. Das leuchtete mir zunächst ein, und doch wich die alte Idee, die mich ja eigentlich in die Religionswissenschaft hinein getrieben hatte, nicht ganz von mir.

Dass religiöse Wahrheitsansprüche, zumal wenn sie sich auf metaphysische, transzendente Themen beziehen, außerhalb der methodischen Überprüfbarkeit der Religionswissenschaft stehen, ist eine Grundmaxime unseres Faches, die ich hier nicht hinterfragen möchte. Weniger eindeutig aber scheint mir die Frage nach der Wertfreiheit oder Wertneutralität beantwortet, denn erstens bewegt sich die Religionswissenschaft wie jede Wissenschaft in gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die wiederum Folgen vorausgehender Wertsetzungen sind (das berührt Fragen der Hochschul- und Bildungsideale, der Wirtschaftlichkeit und Finanzierung, der Politik im Allgemeinen, usw.), und zweitens unterliegen auch wissenschaftliche Methoden ethischen Wertsetzungen (das berührt Fragen nach dem Umgang mit Forschungsobjekten, zumal wenn diese Menschen, also Subjekte mit Rechten und Würde sind, aber auch nach den Folgen von Erkenntnisveröffentlichungen auf nachfolgende Wertediskussionen usw.). Die Religionswissenschaft steht also genau so wenig wie irgend eine andere Wissenschaft in einem wertfreien Raum.

Dass der interreligiöse Dialog keineswegs nur eine Angelegenheit der Theologen und sonstigen Religionsvertreter ist, erlebte ich eindrücklich im Juli dieses Jahres auf der Tagung Projekt interreligiöses Europa in Graz.(Fn1) Dort wurden Projekte zum interreligiösen Zusammenleben in unserer europäischen Gesellschaft vorgestellt, und zwar von Politikern, Polizisten, Filmemachern, Lehrern und Schülern, und natürlich von Theologen.
Und im letzten Jahr erschien ein Buch mit Reden unseres Bundespräsidenten Johannes Rau mit dem Titel Dialog der Kulturen – Kultur des Dialogs, Toleranz statt Beliebigkeit,(Fn2) in dem er aus seiner Perspektive als Staatsoberhaupt immer wieder auf die Notwendigkeit des interkulturellen und interreligiösen Dialoges hinweist. So ist der interreligiöse Dialog nicht nur eine religiöse, sondern auch eine politische Angelegenheit. So gesehen erhebt sich nicht nur die Frage, ob man sich als Religionswissenschaftler religiös, sondern ob man sich politisch betätigen darf oder soll.

Wenn ich als Religionswissenschaftler mir meiner Verantwortung dafür bewusst werde, welche Fragen ich stelle und wie ich die Fragen beantworten möchte und auch wem ich mit den Antworten, die ich finde letztlich dienen möchte, dann kommt mir auch die Frage, ob meine Arbeit einen Einfluss auf das Miteinanderleben der Menschen haben kann, und wenn ja, welchen sie haben sollte und welchen nicht. Wenn ich diese Fragen beantworten möchte, bin ich mittendrin in Wertsetzungen, denke also normativ und nicht mehr rein deskriptiv.

Der Einfluss eines einzelnen Wissenschaftlers mag gering sein, und doch hat sich unsere Gesellschaft durch den Einfluss der Wissenschaften seit der Renaissance und dann der Aufklärung entscheidend gewandelt, bis hin zu der pluralistischen, individualistischen Gesellschaft der Wahlzwänge unserer Zeit. Die Wissenschaften hatten so auch entscheidenden Einfluss auf das religiöse Leben der Menschen. Liberale und fundamentalistische Theologie wären ohne die Auseinandersetzungen gläubiger Menschen mit den Wissenschaften nicht entstanden.

Wissenschaftler haben nun die Wahl, diese Auswirkungen, die ihre Arbeit auf die Gesellschaft hat, als ihre Mitverantwortung wahr- und anzunehmen oder aber die Verantwortung ganz und gar den Rezipienten wissenschaftlicher Arbeit aufzubürden. So kann zum Beispiel ein Biologe reine Grundlagenforschung betreiben, sei es als Anatom, als Biochemiker, als Verhaltensforscher oder als Ökologe, seine Ergebnisse oder die des Faches allgemein veröffentlichen und der Frage, wer welche Konsequenzen aus der Rezeption der Forschungsergebnisse und Theorien zieht, gänzlich gleichgültig gegenüber stehen. Er kann aber auch gezielt für ein bestimmtes Publikum arbeiten, sei es die Pharmaindustrie, die Landwirtschaft, die Fernsehzuschauer, die Umweltschutzbewegung usw.. So kann auch ein Religionswissenschaftler seine Ergebnisse ohne einen Gedanken an gesellschaftliche Konsequenzen veröffentlichen oder gezielt für eine Enquete-Kommission, eine kommunalpolitische Verwaltung, den Verfassungsschutz, die Dialog- und Ökumenebewegung usw. arbeiten. Hat ein Wissenschaftler ein Zielpublikum vor Augen, besteht noch ein Unterschied darin, ob er von diesem bezahlt wird oder nicht, ob er einen Auftrag annimmt oder sein eigener Auftraggeber ist, ob er beim Zielpublikum beliebt ist oder dieses erst für sich und seine Arbeit gewinnen will.

Innerhalb dieses Szenarios sehe ich nun keinen Grund dafür, warum ein Religionswissenschaftler seine Arbeit nicht in den Dienst des interreligiösen Dialoges stellen sollte. Es besteht nun nur noch die Frage, wie er das tun soll und was er berücksichtigen muss.

Wissenschaft besteht aus Forschung und Lehre. Forschung besteht aus Fragestellung und methodisch disziplinierter Weise, die Fragen zu beantworten. Lehre besteht daraus, Forschungsergebnisse, Methoden, Theorien und Perspektiven des Faches den Mitmenschen beizubringen. Rezipienten der Lehre sind Schüler und Studenten, aber auch die Öffentlichkeit und alle Institutionen in der Gesellschaft, so auch die Religionsgemeinschaften und ihre Institutionen und religiöse Individuen.

In der Forschung besteht die Möglichkeit, sich gezielt solcher Fragestellungen anzunehmen, die im Dialog wichtig sind. Dabei sind selbstverständlich rein theologische Fragen für die religionswissenschaftliche Forschung auszuklammern, aber ansonsten bieten sich alle Fragestellungen an, über die diskutiert wird: Fragen der Religionsgeschichte, auch der Theologiegeschichte, Fragen nach Zusammenhängen zwischen religiösen und sonstigen kulturellen oder gesellschaftlichen Faktoren, zum Beispiel nach sozialen Bedingungen, in denen religiöse Menschen leben, Fragen nach dem psychischen Erleben und Verhalten religiöser Menschen und allgemein Fragen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Religionen. Es sind also die ganz normalen Fragen, mit denen sich die Religionswissenschaft ohnehin beschäftigt.
Der Unterschied zur sogenannten interessefreien Grundlagenforschung besteht darin, dass hier gezielt nach den Gesprächsthemen und so auch nach den Streitpunkten der Dialogpartner gefragt wird.

In der Lehre besteht die Möglichkeit, die Forschungsergebnisse gezielt so zu formulieren, dass die gewünschten Adressaten, eben die Teilnehmer des interreligiösen Dialoges, sie verstehen und in ihre Weltbilder einbauen können. Gerade um dies zu bewerkstelligen, kommt eine weitere Qualität hinzu, die sich Religionswissenschaftler im Laufe ihres Studiums und ihrer Berufspraxis aneignen können, nämlich die, sich in die einzelnen unterschiedlichen religiösen Mentalitäten hineindenken und hineinfühlen zu können, auch wenn dies keine wissenschaftlichen Qualitäten sind, sondern allgemein menschliche, die aber gerade in Verbindung mit dem durch die Wissenschaft erworbenen Fachwissen zu einer sehr nützlichen interreligiösen und interkulturellen Kompetenz werden können. Ein Teil dieser Kompetenz kann dadurch entstehen, dass man bei der Erforschung vor allem von lebenden Religionen seine Forschungsergebnisse mit Vertretern der erforschten Religionen diskutiert. (Fn3) Denn damit führt man einen Dialog zwischen Wissenschaft und Religion und lernt auf diese Weise die Denkmuster der betreffenden Religionsvertreter kennen. Das ist oft ein anstrengendes, ja sogar stressiges Unterfangen, denn die Denkweisen können da sehr weit auseinandergehen, und man kann schon sehr genervt werden von dem Gefühl, der Andere verstehe überhaupt nicht, worauf man hinaus will und warum man diese Frage stellt und die Sache so und nicht anders darstellen möchte. Oder man kommt zu großen Zweifeln bezüglich der eigenen Fähigkeit, die Religion, die man erforscht, überhaupt zu verstehen, wenn einem dieses Unverständnis von ihren Vertretern andauernd unter die Nase gehalten wird. Jedenfalls lernt man dadurch, dass man die meisten Sachverhalte von sehr verschiedenen Seiten betrachten und beurteilen kann ohne zu einem letztgültigen Urteil über sie zu kommen, ein Wissen, das im Dialog von nicht zu unterschätzendem Wert ist. Denn daraus kann die Fähigkeit der Selbstrelativierung erwachsen, und gerade daran hapert es nicht selten.

Ist man also als Religionswissenschaftler auf diese Weise mit interkultureller Sach- und Verstehenskompetenz ausgestattet, kann man das Wagnis versuchen, die Streitfragen zwischen den Vertretern verschiedener Religionen, aber auch zwischen diesen und Vertretern säkularer Institutionen oder Lebensweisen zu klären.

Es ergibt sich nun aber die Frage, aus welcher Perspektive heraus ein Religionswissenschaftler in den Dialog einsteigen soll. Es geht jetzt nämlich nur zum Teil darum, wissenschaftliche Perspektiven gegenüber religiösen einzunehmen, sondern auch darum, religiöse Perspektiven Nichtvertretern derselben verständlich zu machen. Aus diesem Satz ergibt sich, dass ich unter interreligiösem Dialog nicht nur den Dialog zwischen Vertretern verschiedener religiöser Parteien meine, sondern auch den zwischen religiösen und säkularen Standpunkten. Desweiteren verstehe ich darunter auch den Dialog, der innerhalb von Religionsgemeinschaften zwischen ihren Mitgliedern geführt wird und sogar das Selbstgespräch eines Menschen mit sich selbst in der Auseinandersetzung mit anderen religiösen oder säkularen Lehren, also das, was Raimon Panikkar als intrareligiösen Dialog bezeichnet. (Fn4)

Religionswissenschaftler können sich grundsätzlich auf drei verschiedenen Perspektiven am interreligiösen Dialog beteiligen:
1.) Der Religionswissenschaftler bringt seine eigene Religiosität mit ins Spiel und nutzt o.g. Kompetenzen aus, die verschiedenen Perspektiven zu verstehen, seine eigene dem Verstehenshorizont der Gesprächspartner anzupassen und sie zu relativieren, und sowohl die eigene, als auch die Religiositäten der Anderen zugleich aus wissenschaftlicher Perspektive zu betrachten. Damit wäre der Religionswissenschaftler eigentlich ein religiöser Dialogpartner, der zugleich Religionswissenschaftler ist. Bei dieser Position kann man dann noch unterscheiden, ob er zugleich eine Religionsgemeinschaft vertritt oder nur seine individuelle Religiosität.
2.) Der Religionswissenschaftler läßt seine eigene Religiosität mit Absicht außen vor und tritt als neutraler Berichterstatter, Moderator, Mediator und/oder Dolmetscher auf.(Fn5) Das erfordert die Disziplin, sich mit eigenen religiösen, theologischen oder religionsphilosophischen Meinungen zurück zu halten, aber diese lernt man im Laufe des religionswissenschaftlichen Studiums ja von Anfang an.
3.) Der Religionswissenschaftler vertritt zwar nicht die Perspektive einer Religion, aber die einer säkularen Institution, zum Beispiel die des Staates oder seiner Verfassung oder die eines Wirtschaftsunternehmens, einer Bürgerinitiative, einer politischen Partei oder eines Vereines.

Die zweite Option ist die, die am reinsten eine religionswissenschaftliche zu nennen ist. Für welche man sich auch entscheidet, so sind zwei Dinge unabdingbar wichtig.
1. Man muss seine Perspektive den Gesprächspartnern offen legen.
2. Die Gesprächspartner müssen diese akzeptieren.

Letzteres ist gar nicht immer so einfach, aber dennoch möglich, wie einige Vertreter unseres Faches schon bewiesen haben.

Bespiele:

Peter Antes:
Peter Antes ist Mitbegründer des Vereins zur Förderung der Begegnung der Weltreligionen und des interkulturellen Gesprächs e. V.(Fn6) Er versteht seine spezifisch religionswissenschaftliche Aufgabe darin, für die religiös gebundenen Gesprächspartner ein Mediator und Simultandolmetscher zu sein. Die Dolmetscherfunktion meint hier nicht die zwischen Sprachen wie Deutsch oder Arabisch, sondern zwischen religiösen Sprachebenen mit ihren jeweils spezifischen Eigenheiten, die oft Quellen der Mißverständnisse sind. Seine eigene religiöse Überzeugung lässt er dabei, wie bei der religionswissenschaftlichen Forschung, außen vor, und das wird von den anderen Dialogpartnern anerkannt und akzeptiert. Er ist dabei durchaus der Meinung, dass es, sofern der Religionswissenschaftler sich in einem staatlichen Anstellungsverhältnis befindet, zum Beispiel als Dozent an einer staatlichen Universität, seine Pflicht sei, für die Grundordnung des Staates, für den er arbeitet, einzutreten. Und das könne er zum Beispiel tun, indem er im interreligiösen Dialog für das friedliche Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher religiöser Überzeugungen in eben diesem Staat arbeitet.(Fn7)

Norbert Klaes:
Norbert Klaes, ebenfalls Mitglied des Vereins zur Förderung der Begegnung der Weltreligionen und des interkulturellen Gesprächs e. V., war einige Jahre lang Vorsitzender der World Conference on Religion and Peace (WCRP) Europa.(Fn8) Er nimmt am interreligiösen Dialog nicht in erster Linie als Religionswissenschaftler teil, sondern als europäischer Christ, der aber eben durch sein religionswissenschaftliches Fachwissen über die Religionen in besonderer Weise dazu befähigt ist. Als spezifisch religionswissenschaftlichen Beitrag sieht auch er die Mediatoren- und Dolmetscherfunktion.(Fn9)

Michael von Brück:
Michael von Brück schafft es, gleich auf mehreren Ebenen am interreligiösen Dialog teilzunehmen. Er ist Religionswissenschaftler, evangelischer Theologe und Zen- und Yoga-Lehrer. Er war Mitherausgeber der Zeitschrift Dialog der Religionen, die aus wirtschaftlichen Gründen leider eingestellt wurde(Fn10) , er bringt immer wieder Vertreter verschiedener Religionen miteinander ins Gespräch und stellt auch seine wissenschaftliche Erforschung zum Beispiel des buddhistisch-christlichen Dialogs in dem zusammen mit Whalen Lai verfassten Buch Buddhismus und Christentum(Fn11) in den Dienst der gegenseitigen Verständigung.(Fn12)

Udo Tworuschka:
Udo Tworuschka propagiert eine angewandte oder praktische Religionswissenschaft, die zum Beispiel gewaltbereite, fanatische Religiosität nicht einfach wertneutral beschreibt, sondern ihr gegenüber wertend Stellung bezieht, und sich die Mühe macht, interreligiöse Streitpunkte, zum Beispiel die von Juden, Christen und Muslimen umkämpfte Stadt Jerusalem, so zu beschreiben, dass die verschiedenen religiösen Bedeutungen deutlich werden und ein gegenseitiges Verständnis der streitenden Parteien möglich wird. Er appelliert an die in den Religionen vorhandenen Fähigkeiten zur Toleranz, damit man sich in dem Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben nicht allein auf säkulare Werte berufen muss und sieht sich in seinem Ansatz von Johann Gottfried Herder und von Gustav Mensching inspiriert. Zusammen mit dem evangelischen Theologen Reinhard Kirste gründete und leitet er die Interreligiöse Arbeitsstelle INTR°A, die die Schriftenreihe Religionen im Gespräch heraus gibt.(Fn13)

Wolfgang Gantke:
Wolfgang Gantke vertritt eine Religionswissenschaft, die gegenüber philosophischen Fragestellungen und Fragen nach der Transzendenz offen bleibt, aber gerade ohne den Anspruch, diese mit religionswissenschaftlichen Methoden letztlich beantworten zu können. Es geht ihm um ein Ernstnehmen der religiösen Subjekte als Gesprächspartner, ohne sie und ihre Glaubensinhalte vorschnell auf historische, soziale, psychische und allgemein kulturelle Fakten zu reduzieren. Und es geht ihm darum, die Grenze zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem auch den zu apodiktischen Formulierungen neigenden Gesprächspartnern bewußt zu machen und sie vom Prinzip der offenen Frage zu überzeugen, das eben keine letztgültigen Antworten zulässt, sondern die Notwendigkeit einer Transzendierung jeder Formulierung auf ein sich jeder Formulierbarkeit stets entziehendes Geheimnis hin unterstreicht.(Fn14)

Ich danke allen genannten Herren für ihre Gedanken und Hinweise, die sie mir mündlich oder per Post oder E-Mail haben zukommen lassen und bitte um Entschuldigung, dass ich nicht alle Religionswissenschaftler genannt habe, die in Vergangenheit und Gegenwart im interreligiösen Dialog auf die eine oder andere Weise tätig waren oder sind. Zum Beispiel haben sich während der DVRG-Tagung in Erfurt während der Podiumsdiskussion im Rathaus auch Hans-G. Kippenberg und Michael Pye im Sinne Peter Antes geäußert. Ersterer betonte die Wichtigkeit, religionswissenschaftliche Forschungsergebnisse in die innerreligionsgemeinschaftlichen Diskurse einzubringen, damit diese sich enrsthaft mit bestehenden Problemen, zum Beispiel der oft geleugneten Gewalt im Buddhismus, annehmen, und letzterer erwähnte einen Dialog zwischen der Römisch-Katholischen Kirche und der Tenrikyo, der dank religionswissenschaftlicher Moderation ein Erfolg gewesen sei.

Man muss aber eines bedenken: Die Rechtfertigung eines religionswissenschaftlichen Engagements im interreligiösen Dialog ergeben sich nicht aus den wissenschaftlichen Methoden des Faches, sondern aus dessen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen oder noch exakter formuliert, aus den Lebensbedingungen und daraus resultierenden gesellschaftlichen Verpflichtung der Menschen, die Religionswissenschaft betreiben. Subjekt des Engagements ist also nie die Religionswissenschaft, sondern sind Religionswissenschaftler und Religionswissenschaftlerinnen(Fn15) , die eben keine theoretischen Gebilde, sondern Lebewesen aus Fleisch und Blut sind. Daraus ergibt sich auch, dass die Verpflichtung nicht jeden gleichermaßen betrifft, da nicht jeder in den gleichen Rahmenbedingungen lebt und seiner Arbeit nachgeht. Letztlich sind Religionswissenschaftler nicht mehr zur Friedensarbeit verpflichtet als andere Menschen auch, aber auch nicht weniger, und unsere berufsbedingte Möglichkeit, Friedensarbeit zu leisten, liegt eben in Themenbereichen, die mit Religion und Religionen zu tun haben, wovon der interreligiöse Dialog in der hier beschriebenen Weise ein naheliegendes ist.(Fn16)

Ich selbst versuche von all diesen Ansätzen zu lernen. Es hängt meines Erachtens sehr vom Gesprächskontext und den Gesprächspartnern ab, wie sehr man seine eigene religiöse Identität zurückstellen oder aber vielleicht eher offenlegen darf oder gar soll. Ich bin stellvertretender Leiter von WCRP Köln/Bonn(Fn17) , und in unseren kleinen interreligiösen Gesprächskreisen, in denen man sich kennt, und auch die Identität der Religionswissenschaft den Teilnehmern bekannt ist, kann ich eher mal meine eigenen religiösen Überzeugungen äußern, als wenn ich vor mir fremden Menschen explizit als Religionswissenschaftler auftrete. Wenn ich aber einen öffentlichen Vortrag zum Beispiel über Islam und Gewalt halte, bin ich nur Religionswissenschaftler, und äußere mich gar nicht zu meiner religiösen Identität, und bin trotzdem keineswegs wertneutral dabei. Ich wurde aber auch schon mal gefragt, ob ich, der ich ja Mitglied in der Deutschen Buddhistischen Union (DBU) bin, als Vertreter des Buddhismus an einer Podiumsdiskussion über Religion und Gewalt teilnehmen würde. Da sagte ich auch zu und bemühte mich bei aller Sympathie und Teilidentifikation, die ich für den Buddhismus empfinde, um eine sachliche und abgewogene, keineswegs idealisierende Darstellung. Diese sachliche Distanzierung zu meinen eigenen religiösen Vorstellungen habe ich im Studium der Religionswissenschaft gelernt, und denke, dass ich so auch den Dialogpartnern, die andere Berufe gelernt haben, darin Vorbild sein kann. Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sind ja doch in allen Religionen, mit deren Vertretern ich bisher persönlich zu tun hatte, hohe Werte, zumindest theoretisch. Manchmal hapert es aber an der nötigen Ehrlichkeit sich selbst und den andersgläubigen Gesprächspartnern gegenüber und man will das eigene Nest nicht beschmutzen indem man zugibt, dass auch in der eigenen Religion nicht alles so ideal ist, wie es sein sollte. Wir Religionswissenschaftler können gerade durch unsere fachliche Kompetenz und die uns eigene methodische Reflexion und Selbstrelativierung unser eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung sehr Wertvolles zum interreligiösen Dialog beitragen.


Fußnoten:
Fn1: Die Tagung fand vom 5. bis zum 9. Juli 2003 in Graz statt, veranstaltet vom Friedensbüro der Stadt Graz und der Stadt Sarajevo unter Mitbeteiligung von WCRP Europa. Die Projektergebnisse sollen ab September 2003 im Internet veröffentlicht werden. Vgl. http://www.friedensbuero-graz.at/
Fn2: Vgl. Johannes Rau. Dialog der Kulturen – Kultur des Dialogs. Toleranz statt Beliebigkeit. Freiburg, Basel, Wien (Herder) 2002.
Fn3: Vgl. dazu auch Rainer Flasche. Die Religionswissenschaft Joachim Wachs. Berlin, New York (Walter de Gruyter) 1978, S. 299ff.
Fn4: Vgl. Raimon Panikkar. Der neue religiöse Weg. Im Dialog der Religionen leben. München (Kösel) 1990.
Fn5: Dieser Ansatz wird außer von Peter Antes auch von Klaus Hock vertreten. Vgl. Klaus Hock. Einführung in die Religionswissenschaft. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2002, S. 179.
Fn6: Vgl. dazu die Satzung des Vereins zur Förderung der Begegnung der Weltreligionen und des interkulturellen Gesprächs e.V., eingetragen in Hildesheim am 27. Juni 1997.
Fn7: Ich berufe mich auf Gespräche mit Peter Antes während der REMID-Tagung „Religionen: konkret. Religionsforschung in Deutschland: Konzepte - Ziele - Perspektiven“ vom 13.-15.6.2003 in Leipzig, sowie auf einen Austausch per Post und E-Mail während des Jahres 2003.
Fn8: Zur WCRP vgl. deren Homepage http://www.wcrp.org für die internationale und http://www.wcrp.de für die deutsche Ebene.
Fn9: Vgl. Norbert Klaes. Erfahrungen in der „Weltkonferenz der Religionen für den Frieden“ (WCRP). In: Anton Peter (Hrsg.). Christlicher Glaube in multireligiöser Gesellschaft. Erfahrungen, Theologische Reflexionen, Missionarische Perspektiven. Immensee (Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft) 1996, S. 91-108. – Desweiteren berufe ich mich auf Gespräche mit Norbert Klaes während der o.g. Tagung des Projekts Interreligiöses Europa vom 5.-10. Juli 2003 in Graz und einen postalischen Austausch.
Fn10: Die Zeitschrift erschien von 1991 bis 1998 zweimal jährlich im Christian Kaiser Verlag. Vgl. auch Michael A. Schmiedel. Vom Ende einer Zeitschrift. Dialog der Religionen wurde nach acht Jahren eingestellt. In: Sakrament & Sakrileg, Zeitschrift der Fachschaft Vergleichende Religionswissenschaft der Universität Bonn, Nr. 5, Januar 1999, S. 18f., im Internet lesbar unter http://www.fs-rewi.uni-bonn.de/ss/ss5a8.htm.
Fn11: Michael von Brück und Whalen Lai. Buddhismus und Christentum. Geschichte, Konfrontation, Dialog. München (C.H. Beck) 1997 o. 22000.
Fn12: Ich berufe mich auf einen E-Mail-Austausch mit Michael von Brück vom April und Juni 2003.
Fn13: Vgl. Udo Tworuschka. Nachwort zu Gustav Mensching: Der Irrtum in der Religion, Heidelberg 1969. In: Gustav Mensching. Der Irrtum in der Religion. Eine Einführung in die Phänomenologie des Irrtums. Nordhausen, (Bautz) 2003. Ders. Selbstverständnis, Methoden und Aufgaben der Religionswissenschaft und ihr Verhältnis zur Theologie. In: Udo Tworuschka (Hrsg.), Religionswissenschaft in Jena. Jena 2003, S. 20-42. Desweiteren berufe ich mich auf eine E-Mail-Korrespondenz mit Udo Tworuschka von April bis August 2003, in dessen Rahmen er mir auch einen Teil des Vortragstextes, den er anläßlich der Verleihung der Honorarprofessur für Dr. Herbert Schultze an der Universität Duisburg-Essen am 23. Juni 2003 gehalten hat und einen autobiographischen Text über seinen Weg zur Religionswissenschaft, der im Oktober 2003 im Böhlau-Verlag erscheinenden Festschrift für Michael Klöcker mitgeschickt hat. Internet-Adresse von INTR°A: http://www.interrel.de.
Fn14: Wolfgang Gantke ist einer meiner religionswissenschaftlichen Lehrer in Bonn, und im Laufe der Jahre habe ich so viele Veranstaltungen bei ihm besucht und so viele Gespräche mit ihm geführt, so dass es schwer fällt, sich auf einen bestimmten Zeitraum oder eine bestimmte Korrespondenz zu berufen. Extra erwähnen möchte ich aber seinen im Rahmen der von Heinz Robert Schlette u.a. veranstalteten öffentlichen Vortragsreihe neben dem rathaus am 26. März 2003 gehaltenen Vortrag Dialog der Religionen – eine Illusion?, dessen Manuskript mir Wolfgang Gantke überlassen hat.
Fn15: Wenn ich die weibliche Form bisher weg gelassen habe, dann nur der besseren Lesbarkeit wegen. Ich meine mit „Religionswissenschaftler“ immer Männer und Frauen unseres Faches.
Fn16: Das schreibe ich nach der Lektüre von Bretislav Horynas Beitrag zu diesem Tagungsband, der mehr von der Religionswissenschaft und ihrer wissenschaftstheoretischen Seite her denkt.
Fn17: Wir haben eine einzelne Seite im Internet: http://www.maennerrock.de/WCRP-Koeln-Bonn/wcrp.html bzw. http://www.wcrp-koeln-bonn.de.vu.

Tuesday, March 01, 2005

Sozialverantwortlicher Eigensinn

Sozialverantwortlicher Eigensinn

Es gibt nichts im menschlichen Leben, das nicht von irgendeinem Standpunkt aus gesehen sinnvoll und notwendig und zugleich von irgendeinem anderen Standpunkt aus gesehen albern und lächerlich erscheint. Wichtig ist es, den Standpunkt, von dem aus man eine Sache beurteilt, zu rechtfertigen.

Ich möchte nach dieser grundsätzlichen Vorbemerkung mein Konzept vom sozialverantwortlichen Eigensinn erläutern. Das Wort Eigensinn nehme ich von Hermann Hesse. Nun möchte ich ihm nicht nachplappern, denn das wäre weder ihm noch mir recht. Auch kenne ich sein Eigensinn-Konzept nicht genau genug, um hier und jetzt darüber referieren zu können. Eigensinn, das klingt zunächst sehr nach Egoismus, nach Sturheit, nach Starrsinn. Hesse aber meinte – grob gesagt – damit, dass jeder Mensch das leben soll, was aus ihm heraus will. In seinen Büchern „Demian“, „Narziß und Goldmund“, „Siddhartha“, „Unterm Rad“, „Steppenwolf“, „Klein und Wagner“ und anderen, und natürlich in den Textsammlungen „Eigensinn“ und „Eigensinn macht Spaß“ kann man nachlesen, was er darunter verstand. Es ist schon ein Egoismus, aber keiner, dem das Befinden der Mitmenschen gleichgültig ist. Das Adjektiv sozialverantwortlich hat Hesse meines Erachtens nicht verwendet, aber gelebt, wenn auch nicht in allen Lebenslagen. Er hat im Ersten Weltkrieg im Dienste des deutschen Kriegsministeriums die in französischen Lagern inhaftierten deutschen Kriegsgefangenen mit Literatur versorgt und gleichzeitig friedensliebende Aufsätze für die Zürcher Zeitung geschrieben, und er beantwortete jeden Leserbrief, ungeachtet der Schreibzeit und der Portokosten. Das ist Sozialverantwortung, und zwar die eines eigensinnigen Menschen, der nur das leben wollte, was aus ihm heraus wollte, und sich damit auch viele Feinde, oder zumindest scharfe Kritiker machte.

Ich setzte das genannte Adjektiv davor, um den scharfen, unversöhnlichen Klang des Substantivs etwas abzumildern. Das tue ich auch deshalb, weil in unserer heutigen Gesellschaft ohnehin schon ein großer Egoismus, der sich nicht selten hinter dem Ideal der Selbstverwirklichung versteckt, verbreitet ist. Was aber meine ich mit dem sozialverantwortlichen Eigensinn?

Nun, als Kind einer geistes- und kulturgeschichtlichen Entwicklung der europäischen Gesellschaft, die neben anderen wichtigen Epochen durch Renaissance und Aufklärung hindurch gegangen ist, sehe ich in jedem Menschen ein Individuum, das Teil einer Gemeinschaft ist. Ich sehe im Menschen also nicht in erster Linie die Teilhabe an der Gemeinschaft, aber auch nicht nur das einzelne Wesen. Jeden Menschen sehe ich als ein Wesen, das seinen ureigensten Weg gehen muß, wobei dieser Weg eingebettet ist in zahlreiche Situationsabhängigkeiten. Diese Situationsabhängigkeiten machen ja auch einen Teil des Individuums aus. Wir sind ein Produkt unserer Gene und unserer Umwelt und eventuell einer Größe X, die ich nicht näher bestimmen kann. Sollte es etwas wie Freiheit geben, ist sie in der Größe X grundgelegt, die aber meinem Verstand ein Mirakel ist, ein Wunder, von dem ich nichts weiß, das ich nur fühle.

Nun möchte ich hier keine alle Tiefen auslotende Anthropologie, auch keine Grundsatzgedanken über die Möglichkeit menschlicher Freiheit, was ich andernorts schon getan habe, vorlegen, sondern das meiner Ansicht nach ideale Verhältnis des einzelnen Menschen zu der Gesellschaft, deren Teil er ist, postulieren.

Wichtig ist mir zunächst folgendes: Jeder Mensch ist eine besondere Persönlichkeit, mit einer eigenen, unveräußerlichen Würde. Das haben die Verfasser unseres Grundgesetzes sogar zu einer juristischen Grundlage unseres Staates gemacht. Der Grundsatz der Unantastbarkeit der menschlichen Würde ist auch in der Erklärung der Menschenrechte der UNO festgelegt. Dessen ungeachtet, wird diese Würde immer wieder angetastet, verachtet, mit Füßen getreten, und zwar von Menschen, die auf ihre eigene Würde Wert legen, die der anderen aber nicht achten.

Amnesty international legt immer wieder Berichte vor über Inhaftierungen, Folterungen und andere Menschenrechtsverletzungen, die weltweit durch Regierungen, Militär, Polizei und andere Institutionen menschlicher Gesellschaften durchgeführt werden. Wir schimpfen oft darüber, dass so etwas heute noch möglich ist. Nun, es ist nur möglich, weil es Menschen gibt, die es irgendwie für richtig halten, so zu handeln, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, und weil es Menschen gibt, die das zwar für falsch halten, aber dazu schweigen aus Angst, selber zu Opfern zu werden, wenn sie den Mund aufmachen, eine leider nicht ungerechtfertigte Angst.

Wir verehren sehr Menschen wie Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Lech Walesa und andere Vertreter der individuellen und kollektiven Rechte der Menschen auf Selbstbestimmung in Fragen der Lebensführung. Wir verehren sie als Freiheitskämpfer, wie dereinst in nationalistischeren Zeiten Andreas Hofer oder Arminius den Cherusker. Ungeachtet der Spannungen, die sich zwischen individueller und kollektiver Betonung der Menschenrechte z.B. zwischen einem modern-westlichen und einem islamischen Verständnis ergeben, möchte ich unsere Verehrung der Freiheitskämpfer doch mal als bequeme Sesselfurzerei beschimpfen, solange wir in bequemen gesicherten Rechtsstati leben und mit all den Problemen, für deren Beseitigung besagte Menschen einstanden, persönlich nichts zu tun haben. Und wenn man genau hinschaut, erlebt man leider nicht zu selten, dass auch im Rahmen normaler gesellschaftlicher Konventionen Diskriminierungen stattfinden, sobald jemand aus der Reihe tanzt und anders ist als die anderen. Ethologen mögen sagen, das sei ganz normal bei Tieren, zu denen auch wir Menschen zählen, und man könne es schon bei Kindern beobachten, so möchte ich ungeachtet des Wertes, den die tierische und kindliche Unschuld als Symbol haben mag – etwa im Gegensatz zu einem verbildeten und krampfhaft gekünstelten Erwachsensein – doch normativ behaupten, dass es einem wahrhaft erwachsenen Menschen unreif anmutet, die Eigenarten nicht uniformierter Gesellschaftsmitglieder zu verurteilen.

Ich bringe mal drei Beispiele aus einem ganz äußerlichen Bereich, nämlich dem der Kleidung, in welchem ich als Mann, der gerne Röcke trägt, auch ein wenig aus dem konventionellen Rahmen falle.

Man stelle sich vier Männer vor, deren einer einen großen Hut trägt, etwa einen Stetson, deren zweiter einen Rock trägt, etwa einen Jeansrock, deren dritter einen Anzug mit Hose, Jackett und Krawatte trägt und deren vierter mit Jeanshose und T-Shirt bekleidet ist. Sollte man zu den Menschen gehören, die darüber nachdenken, warum sich ein Mensch so oder so kleidet, könnte man zu folgenden Überlegung kommen:

Zu dem Mann mit dem großen Hut:
Will er sich vor der Sonne schützen?
Kommt er aus einem Land, in dem man solche Hüte trägt, etwa aus Texas?
Will er auffallen und sich wichtig machen?
Ist er ein kindgebliebener Mann, der gerne Cowboy spielt?
Ist er ein Schauspieler mit Kostüm?
Hat er den Hut als Souvenier von einer Reise mitgebracht?

Zu dem Mann mit dem Rock:
Ist es ihm in Hosen zu unbequem oder zu warm?
Kommt er aus einem Land, in dem man Röcke trägt, etwa aus Schottland?
Trägt er gerne Frauenkleidung, etwa weil er sexuell irgendwie anders orientiert ist als hetero- und cissexuell, also homo- oder transsexuell, transvestitisch, fetischistisch oder sonstwie?
Will er gerne auffallen und sich wichtig machen?
Sind seine Hosen alle in der Wäsche, und hat er sich einen Rock ausgeliehen?
Findet er Röcke schöner als Hosen?

Zu dem Mann mit dem Anzug:
Kommt er von oder geht er zu einem Fest?
Will er mir was verkaufen?
Findet er Anzüge und Krawatten schön?
Wurde er dazu gezwungen, sich so unbequem zu kleiden, etwa von seinem Chef?
Ist er ein unsicherer Mensch, der sich so kleidet, um nicht negativ aufzufallen und seine Unsicherheit zu verbergen?
Liebt er es, sich zu uniformieren, um in der Masse unterzugehen?
Will er gerne den Chef spielen?

Zu dem Mann mit Jeanshose und T-Shirt:
Kleidet er sich gerne bequem?
Legt er Wert auf unauffällige Kleidung?
Ist er ein IT-Spezialist, der auf Grund seiner Fachkompetenz nicht der Pflicht unterliegt, einen Anzug zu tragen?
Hat er Urlaub?
Ist er auf dem Weg zu oder kommt er von einer Arbeit, die praktische Kleidung erfordert?
Ist er ein Fan amerikanischer Freizeitkleidung?

Man sieht also, dass es jeweils mehrere Möglichkeiten gibt, die Kleidungswahl eines Menschen zu interpretieren. Vielleicht kommen uns sehr schnell Assoziationen in den Kopf, die in über 50% der Fälle auch der Wahrheit entsprechen mögen. Doch scheint mir auch eine mögliche vielleicht 20%ige Fehlerquote zu hoch, als dass wir uns erlauben könnten, einer anerzogenen Spontanbeurteilung vollends zu vertrauen. Unsere Gesellschaft heute ist schon zu pluralistisch, als dass Pauschalurteile eine Chance hätten, in mehr als acht von zehn Fällen zuzutreffen.

Nun könnte man ja der Überzeugung sein, dass die vielleicht 20% der Menschen, auf die ein Spontanurteil nicht zutrifft zu verkraften sind, und sie selber schuld sind, wenn man ihre Devianz falsch einschätzt. Das wäre jedoch eine Überzeugung, der ich scharf widersprechen muss. Man stelle sich einen Menschen vor, der sein Auto nicht abschließt und den Zündschlüssel stecken lässt, worauf ein Dieb den Wagen stiehlt. Wem ist nun die Schuld zuzuschreiben? Die Versicherung wird sicher dem Wageneigentümer die Zahlung einer Entschädigung verweigern, weil er fahrlässig gehandelt hat. Das Gericht aber wird nicht den Wageneigentümer wegen seiner Fahrlässigkeit verurteilen, sondern den Dieb, weil er einen Diebstahl beging. Der Dieb kann also seine Verantwortung nicht auf den fahrlässigen Eigentümer abwälzen und sagen, es sei doch selber schuld. Ähnlich ist es aber mit einem sich irgendwie ungewöhnlich kleidenden Menschen: Er muss zwar damit rechnen, auf Grund uralten, tierischen Devianzabwehrverhaltens ausgegrenzt oder zumindest dumm angemacht zu werden, die Verantwortung für das Diskriminierungsverhalten aber liegt immer bei dem, der es anwendet. Würde man sie ihm nehmen, nähme man ihm seine Menschenwürde, die immer mit Freiheit und Verantwortung verbunden ist. Also darf man jeden Menschen, der ganz uneigensinnig das tut, was man eben tut, weil man es eben tut, getrost die Frage stellen, warum er es tut und von ihm eine Rechtfertigung erwarten. Das bedeutet, dass uniformiertes Verhalten genau so der Rechtfertigung bedarf wie eigensinniges. Wer die Verantwortung abgibt an Sitten und Gebräuche, Vorgesetzte und Befehle, eine heilige Schrift oder Tradition, die öffentliche Meinung oder die Marktlage, der entäußert sich selbst seiner Menschenwürde. Das klingt hart, man müsste es auch noch mal im Detail überdenken. Aber die Denkrichtung stimmt. Ich möchte damit auch nicht behaupten, wir könnten vollkommen frei sein von all dem und auch nicht, dass all das keinen Wert hat, aber sehr wohl, dass die Souveränität der Wahl, welches Gewicht wir all dem geben, bei uns liegt, bei jedem einzelnen von uns, bei mir und bei Dir und bei Lieschen Müller, 08/15 und Otto Normalverbraucher.

Natürlich kann man fragen, wieviel Verantwortung ein Mensch überhaupt tragen kann, wieviel Freiheit er verträgt. Wenn ich mal davon ausgehe, dass wir Menschen von allen Lebewesen der Erde am wenigsten instinktgesteuert oder sonst wie in unseren Handlungen genetisch vorprogrammiert sind, dann scheint das Lernen doch für uns eine immens wichtige Rolle zu spielen, wenn es darum geht, Orientierung im Leben zu finden. Wesentliche Dinge lernen wir anscheinend schon in der frühen Kindheit, weitere wichtige in der Jugend, und nur noch Weniges als Erwachsene. So war das über Jahrtausende auch richtig, denn die Lebensbedingungen veränderten sich nur langsam, und unsere Vorfahren lebten in kleinen, überschaubaren Gruppen mit recht stabilen Lebensregeln. Heute ist es anders: Ständig verändert sich die Gesellschaft, ständig kommen technische Neuerungen hinzu und auch neue Ideen, wie Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und auch Religion zu praktizieren sind. Das erfordert entweder ständige Anpassung oder einen stabilen Standpunkt, der uns Sicherheit gibt. Das sind auch eben die beiden antipodialen Überlebens- bzw. Orientierungsstrategien, die am häufigsten anzutreffen sind. Es sind zwei Extreme, das ständige Hinterherrennen hinter den Veränderungen und das sture, fundamentalistische Verharren auf einem Standpunkt, an dem man sich gewöhnt hat und mit dem man sich zurecht findet. Beide Standpunkte haben indes gemeinsam, dass sie tendenziell uns Menschen uniformieren. Denn Anpassungen an Veränderungen sind sich bei gleichen Veränderungen stets zumindest ähnlich. Man folgt dem Diktat der Mode oder des Marktes, das heute diese, morgen jene Qualitäten von einem Menschen verlangt, die zwar ständig wechseln, aber zu einem Zeitpunkt einander sehr ähnlich sind. Der Fundamentalismus verlangt eine Treue zu einem fest gelegten Standpunkt nach Möglichkeit von vielen Menschen, da eine große Anzahl von Gesinnungsgenossen die Plausibilität des Standpunktes für den Einzelnen erhöht. Das praktische Ergebnis beider Standpunkte ist aber, dass sich in der Gesellschaft gegeneinander arbeitende oder gar kämpfende Untergruppen bilden, denn es gelingt nie, liberalistisch alle Menschen gleichermaßen an die sich verändernden Bedingungen anzupassen, sondern es entsteht ein Wettbewerb um die Ressourcen, die Märkte, die Arbeitsplätze usw., und es wird auch nie gelingen, alle Menschen fundamentalistisch auf einen Standpunkt einzuschwören, sondern auch hier entsteht ein Wettbewerb der Sinndeutungs- und Welterklärungsangebote, die jeweils mit unerschütterlichem Absolutheitsanspruch um die Ausweitung ihres Geltungsbereiches kämpfen. Das ist aber die Situation in unserer Gesellschaft, in der wir uns zur Zeit befinden.

Der sozialverantwortliche Eigensinn ist eine Alternative dazu. Gewissermaßen ist er auch ein Mittelweg zwischen den Extremen, gewissermaßen ist er aber auch selbst extrem, je nachdem, von welcher Perspektive aus wir ihn betrachten.

Es geht keineswegs darum, die Gesellschaft zu verachten, zu bekämpfen oder sich ihr zu verweigern! Ich selber habe drei Jahre meines Lebens die schwarz-rot-goldene Flagge auf oliv betuchtem Oberarm getragen, bereit, diese unsere bundesrepublikanische deutsche Gesellschaft mit meinem Leben gegen Angreifer zu verteidigen. Ich war nicht gerne Soldat, wenn ich als Kind auch von allem Militärischen begeistert war. Als Jugendlicher und Erwachsener entwickelte ich mich jedoch mehr und mehr zum Pazifisten. Doch anders als Hesse bin ich der Auffassung, dass man das Militär nicht denen überlassen sollte, die ohnehin Raufbolde sind, denn dadurch würde das Militär zu einer gefährlichen Institution, sondern ich bin dafür, dass gerade die Friedliebenden Soldaten sein sollen, denn es geht ja nicht darum, Krieg zu führen, sondern durch ein Zusammenspiel von vertrauensbildenden Maßnahmen und Abschreckung Krieg zu verhindern. Im Falle des Nato-Warschauer-Pakt-Konfliktes ist uns das gelungen. Was weiter wird, weiß ich nicht. Jedenfalls ist mir besagte Flagge gewissermaßen heilig, denn sie steht gerade für die Werte, die mir gesellschaftlich wichtig sind, nämlich Demokratie, Freiheit, Einheit im Pluralismus, das eben, wofür die Jenaer Burschenschaft und der Frankfurter Bundestag im 19. Jahrhundert gegen freiheitsunterdrückende Fremdherrschaft und obrigkeitliche Kleinstaaten eingetreten sind. Der sozialverantwortliche Eigensinn ist in gewissem Sinn eine Fortführung dieser Ideale.

Man darf mich also in zweifacher Weise nicht mißverstehen: weder schwärme ich von einem nationalen Staat, der mit einer heiligen Flagge als Symbol seine Bürger in sich vereint und vereinheitlicht, noch von einer Anarchie, in der jeder das tut, was ihm gerade so gefällt. Ich bin im Vergleich zu Hesse ein wenig staatsfreundlicher, weil unsere westeuropäischen Staaten heute andere sind, als die zu seiner Zeit. War damals noch ein hurra-patriotischer Nationalismus die stärkste Kraft in der westeuropäischen Gesellschaft, so ist es heute der Neo-Liberalismus. Wenn wir nun also ein Feindbild brauchen, so dieses. Vielleicht kommen wir aber auch ohne Feindbild aus.

Es geht nicht in erster Linie darum, gegen etwas oder jemanden zu protestieren, sondern darum, die in jedem Menschen innewohnende Kreativität zu aktivieren. Es geht um das thelemitische „Tu was Du willst!“, das ich allerdings in der Version Michael Endes, wie er es in „Die Unendliche Geschichte“ dargelegt hat, kenne. Es geht nicht darum, immer das zu tun, wozu man gerade Lust hat, sondern darum, erst einmal zu entdecken, was die eigenen Wünsche überhaupt sind. Glück erlangen und Leid vermeiden sind sicher grundlegend menschliche Wünsche, gewissermaßen anthropologische Konstanten. Bisweilen ist es aber ein langer Weg, bis man die eigene, individuelle, persönliche Variante dieses Wunschpaares gefunden hat, eine Suche, die der mythischen nach dem Heiligen Gral oder der romantischen nach der Blauen Blume entspricht. Irrwege sind ein normaler Bestandteil des Weges, ja sind eigentlich ein Bestandteil des Suchers, der letztlich nicht getrennt ist von seinem Weg, solange er ihn geht. Und es scheint mir auch gar kein endgültiges Ziel vorhanden, sondern das Ziel ist erreicht, wenn man seine eigene Weise gefunden hat, den Weg zu gehen.

Ich habe nicht das Format der oben erwähnten politischen Freiheitskämpfer. Das ist nicht mein Weg, so wie ich ihn zur Zeit kenne. Mein Weg ist die Wirksamkeit in meinem Kreise, wie Adalbert Stifter es nannte, der zur Zeit der deutschen Kleinstaaten nach dem Wiener Kongreß lebte. Polizeiliche Überwachung erstickte jedes demokratische Bestreben der Bürger, deren erste Pflicht es war, ruhig zu sein, im Keime. Stifter schrieb seine regimekritischen Schriften dermaßen verschlüsselt, dass ich ihnen gar nicht ansah, dass es überhaupt solche sind. Das erfuhr ich erst, als ich eine Interpretation las.

So verstecken muss sich heute niemand. Unser Staat ist offener, freiheitlicher. Opponenten und Satiriker dürfen offen sprechen und schreiben. Der Staat als solcher ist nicht das große Objekt meiner Kritik, wenn es im Detail auch viel zu kritisieren gibt. Ich wünschte mir sogar stärkere Staaten, die die wirtschaftliche Globalisierung in menschenfreundliche Bahnen lenken könnten, anstatt sie völlig der Macht und dem Wettbewerb undemokratischer multinationaler Konzerne zu überlassen. Die grauen Männer aus Michael Endes „Momo“, die CWNU-Agenten aus meiner Geschichte „Antes Mission“ sitzen überall in den Chefetagen oder tingeln durch die Lande auf Kundenfang, und sie stecken mit ihrer Sichtweise die einfachen Menschen an, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche ist in vollem Gange. Der Gmork ist unterwegs und gaukelt den Leuten phantásische Geschichten als käuflich erwerbbare Wirklichkeiten vor.

Was sollen all die Anspielungen auf phantastische, belletristische Literatur? Ist das nicht unseriöses Zeug? „Was Du nicht kennst, das meinst du soll nicht gelten, du meinst, dass Phantasie nicht wirklich sei? Aus ihr allein erwachsen künft’ge Welten: In dem, was wir erschaffen, sind wir frei!“ (aus Michael Endes „Das Gauklermärchen“). Oh ja, die Werbefachleute wissen genau, wie sie die Macht der Phantasie für eine Umsatzsteigerung nutzbar machen können. Die Kunden folgen ihnen in ihr Phantásien, statt in ihr eigenes zu reisen. Ein notwendiger Erkenntnisakt wäre es wohl, das eigene Weltbild als Konstruktion zu erkennen und herauszufinden, wer es konstruiert hat, dann die Baupläne zu übernehmen, und Herr im eigenen Haus zu werden und eigenverantwortlich und frei selbst zu konstruieren und zu dekonstruieren.

Michael Ende sagte mal bedauernd, dass es keine Käuze mehr gäbe, womit er nicht die Vögel meinte, sondern eigensinnige Menschen, die aus dem Rahmen uniformer Normalität fallen. Nun, ich kenne solche Käuze, es gibt sie noch. Und es wäre mir eine Ehre, ein solcher Kauz zu sein, aber es ist nicht eigentliches Ziel meines Weges. Ein Kauz, der sein Kauzsein als Image pflegt, ist wohl auch kein echter. Echte Käuze werden es ungewollt in dem sie ihrem Willen folgen, der sie einen Weg gehen läßt, der nicht dem gesellschaftlichen Mainstream entspricht. Käuze sind eher gesellschaftliche Produkte und entstehen durch Devianz und Ausgrenzung. In einer wirklich reifen Gesellschaft gäbe es keine Käuze, nicht weil alle an den Mainstream angepasst wären, sondern weil es keinen Mainstream gäbe, für den ein Absolutheitsanspruch postuliert würde.

Ich habe nicht grundsätzlich etwas dagegen, dass es einen Mainstream gibt, denn es gibt Menschen, deren ureigenstem Wesen es entspricht, der Herde zu folgen. Das sollen sie ruhig tun, dann aber auch dafür einstehen, dass sie es tun, weil es ihnen entspricht und nicht, weil man das so tun muß. Es gibt keinen Grund, auf Herdenmenschen herabzublicken, denn jeder Mensch hat seine wertvollen Besonderheiten, auch innerhalb einer Herde oder Mainstreamgesellschaft. Überdies gibt es diese hier überspitzt formulierte Dichotomie selten in dieser Form, sondern die allermeisten von uns stecken irgendwo dazwischen. Nun gilt es aber zu erkennen, wo man dazwischen steckt und weder sich dort an den Mainstream anzupassen, wo er einem nicht entspricht, noch ihm dort zu widersprechen, wo er einem entspricht, wohl weil man meint, ein Individualist zu sein. Es gibt auch Herden von Individualisten, so wie in „Das Leben des Brian“: „Ihr seid alle Individuen!“ – „Wir sind alle Individuen!“ – „Nein, ich nicht!“

Es steht jedem Menschen frei, Angst vor zu viel Freiheit und Verantwortung für seine Entscheidungen zu haben und sie an jemand anders abzugeben. Das gehört auch zur Vielfalt menschlicher Lebensmöglichkeiten. Das sei zur Abmilderung des weiter oben Formulierten gesagt. Nun soll ein solcher Mensch aber zumindest für den Schritt der Verantwortungsabgabe die Verantwortung tragen und es als seine eigene Entscheidung annehmen und zugeben und nicht von jedem anderen erwarten, dass er es genau so tut. Auch muss nicht jeder seine Entscheidungen rational erklären, sondern darf ruhig aus dem Bauch heraus handeln, auf der Grundlage klarer, aber auch diffuser Gefühle. Aber dann soll er dies zugeben und nicht so tun, als habe man allgemein so zu handeln.

Was ich partout nicht ausstehen kann, ist, wenn von Mainstream-Menschen ein sozialer Druck ausgeht, der jeden anfeindet und ausgrenzt, der sich nicht einordnet und anpasst!

Ich bewundere den Polizisten, der Erziehungsurlaub nahm, auch wenn seine Kollegen, in deren kollektives Männlichkeitsbild das nicht passte, ihn darauf hin verspotteten. Ich bewundere die Frauen, die in einer patriarchalischen Gesellschaft für ihre Rechte kämpfen, aber auch die Männer, die gegen ein Zuviel des Feminismus protestieren. Ich bewundere die Frauen, die sich die Akzeptanz erstritten, in jeder gesellschaftlichen Situation Hosen tragen zu dürfen und bin stolz darauf, nun umgekehrt für die Akzeptanz von röcketragenden Männern zu arbeiten. Ich bewundere die Musliminnen, die sich vom religiösen Zwang, ein Kopftuch zu tragen, befreien, aber auch die, die sich gegen den umgekehrten Druck einer säkularen Gesellschaft durchsetzen und ihr Kopftuch öffentlich tragen. Ich bewundere die Politiker, die den Konventionen zum Trotz statt in Anzügen und Krawatte mit Jeans und Turnschuhen in den Bundestag einzogen, auch wenn sie nun auf internationaler Ebene das leider nicht durchhalten, weil die Regierung vom „land of the free“ derartige Freiheiten nicht duldet.

Es ist übrigens schon ein Skandal, wie sehr die Regeln, die in einer Gesellschaft aufgestellt werden gerade von gesellschaftstragenden Personen gebrochen werden. Z.B. opponieren gerade solche Männer, die Sachlichkeit und Ratio fordern am stärksten gegen die Männerrockbewegung, ohne auch nur ein sachliches und rationales Argument vorbringen zu können. Sie schämen sich wohl dafür, dass diffuse Gefühle und Anhaftungen an Gewohnheiten an den Status quo die wahren Gründe sind. Ich habe Achtung vor den Männern, die diese Gründe haben und auch zugeben. Ich kenne auch Männer die das tun, meine aber, dass diese in der Minderheit sind. Die gesellschaftlichen Konventionen halten also bisweilen den Denkregeln, die die Gesellschaft aufgestellt hat und propagiert, nicht stand, und trotzdem werden sie hartnäckig verteidigt. Doppelmoral ist ein Schimpfwort und doch auch heimliche Konvention. Meines Erachtens dienen Gesellschaftkritiker der Gesellschaft oft mehr als Konventionalisten, zumindest wenn diese Konventionalisten aus ihren eigenen Anhaftungen an Gewohnheiten heraus andere Menschen zu eben diesen Gewohnheiten verpflichten wollen und ihre wahren Motivationen nicht zugeben wollen, sondern sich lieber in der Masse von Mitmenschen verstecken, die die gleichen Gewohnheiten haben und lieb haben, diese Liebhaberei aber wiederum nicht als solche zugeben, sondern ihrerseits auch wieder lieber anonym in der Masse untertauchen wollen. Wer eine Liebhaberei, z.B. liebgewonnene Gewohnheiten hat, soll dazu stehen und sie rechtfertigen oder aber sie verwerfen, aber er soll sie nicht zur Handlungsmaxime für alle anderen machen und soll sich auch nicht davor schämen, zu ihnen zu stehen, und die Verantwortung anderen, und sei es der anonymen Masse, dem anonymen „Das tut man so!“ aufladen.

Es geht also keineswegs darum, nicht auf die Wünsche und Erwartungen anderer Menschen einzugehen, aber darum, sich nicht solchen Konventionen zu beugen, die irgendwie als Grundlagen gesellschaftlichen Miteinanders gelten, aber doch nur vordergründig eingehalten werden, um einen Schein des Anstandes zu wahren, gemessen an den Denkregeln der Gesellschaft aber keinen rechten Sinn ergeben. Jedes, „man tut dies, weil es sich so gehört“ ist als Handlungsmaxime zu verwerfen, und statt dessen ein „ich tue dies, weil ich dies aus folgenden Gründen, die ich zur Disposition stelle, für sinnvoll erachte“ zu fördern und zu fordern. Dann kann man vortrefflich und ehrlich über die Gründe und die zu erwartenden Konsequenzen diskutieren. Meines Erachtens ist ein kreativer Ekklektizismus der Werte, die man zu Grundlagen seines Handelns macht, einer unkritischen Übernahme überlieferter Werte vorzuziehen, immer vorausgesetzt, man übernimmt für die selbst vorgenommene Auswahl auch die Verantwortung und folgt nicht einfach Lust und Laune, sondern dem sorgfältig explorierten und gerechtfertigten eigenen Willen.

Eine gute Möglichkeit, den eigenen Willen zu erforschen, bietet die buddhistische Achtsamkeitsmeditation, in welcher man still dasitzt und auf die Empfindungen und Wahrnehmungen von Körper und Geist achtet, ohne sie zunächst zu beurteilen. So kann man erkennen, welche Regungen aus einem hervorwollen, und man kann sie annehmen und akzeptieren, dann aber auch überprüfen, ob sie einem heilsam oder unheilsam erscheinen. Ob man bei dieser Überprüfung nun aber den Bewertungen des Buddha oder anderer Meister folgt oder die eigene Lebenserfahrung zur maßgebenden Grundlage macht, ist wiederum eine Entscheidung, die man verantworten muss.

Eine gute Möglichkeit, einer Sache diskursiv auf den Grund zu gehen und die eigenen Fragen und Antworten ehrlich zur Diskussion zu stellen, bietet das sokratische Gespräch. Man sagt, was man zu sagen hat, ohne dabei unterbrochen zu werden, hört einer anderen Darstellung zu, ohne den Gesprächspartner zu unterbrechen, und geht dann gemeinsam der Begründung des Dargelegten nach, wobei man sorgfältig zwischen eigenen Erfahrungen und Schlußfolgerungen und einfach Übernommenem unterscheidet. So kann man sehr schön herausfinden, inwieweit man eine Sache wirklich verstanden oder nur Definitionen auswendig
gelernt hat.

Mir scheinen diese beiden Methoden sich gegenseitig sehr schön zu ergänzen. Die Achtsamkeitsmeditation alleine läßt einen schnell unkritisch werden gegenüber Infiltrationen von außen und damit gegenüber Fremdsteuerungen, von denen einem erklärt wird, sie entstammten eigener Meditationserfahrung. Solches geschah zum Beispiel in Japan zur Zeit des Imperialismus, in welcher den Zen-Praktizierenden weisgemacht wurde, die Loyalität gegenüber dem Kaiser und das Töten von Feinden Japans entsprächen mahayanabuddhistischer Ethik. Eine diskursive Erörterung philosophischer Probleme alleine läßt einen schnell vergessen, dass wir nicht nur rationale Kopfmenschen sind, sondern zahlreiche, kontextuell sinnvolle Emotionen ihr Recht einfordern, unser Handeln zu bestimmen. Beide Methoden zusammen aber, in ihrer gegenseitigen Überprüfung, ergänzen sich sehr sinnvoll.

Es läuft also doch auf die oben schonmal erwähnte Selbstverwirklichung hinaus, wobei „Verwirklichung“ hier eine Doppelbedeutung hat, von „Wirklichkeit erkennen“ und „Wirklichkeit erschaffen“. Wie sehr unsere Vorstellungen von der Welt ihrem tatsächlichen Sosein, wie es außerhalb unserer Wahrnehmung ist, entsprechen, entzieht sich immer mehr meiner Beurteilung, je mehr ich mich mit dem Konstruktivismus beschäftige. Ausgehend von Sinneseindrücken erschaffen wir uns jedenfalls die Welt in ihrer Bedeutung für uns selbst. Es besteht also eine Interpretation von Empfindungen und eine Projektion der Interpretationen auf eine Matrix. Diese Projektion in ihrer Gesamtheit aber ist erst eigentlich Welt und Wirklichkeit. Dieser Dreischritt von Empfindung, Interpretation und Projektion ist zugleich ein rezeptiver und ein konstruktiver Prozess. Die Schwierigkeit besteht in dem Drahtseilakt zwischen den Vorstellungen entweder nur einer richtigen Art und Weise, diesen Prozess zu bewerkstelligen oder eben der vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber derartigen normativen Vorstellungen, also zwischen Fundamentalismus und Beliebigkeit in Fragen von Welterklärung und Sinndeutung. Und bzgl. des zu verwirklichenden Selbstes ist es nicht anders als mit anderen Objekten der Realisierung: es ist ein Zusammenspiel von Wahrnehmung und Wahrmachung, von Vorfindung und Erfindung. Bisweilen tut es not und gut, ein Konstrukt, das als allzu willkürlich und unrealistisch erscheint, zu dekonstruieren, indem man es zurückführt auf die zugrunde liegenden Empfindungen und auf die Interessen, die hinter den Interpretationen liegen. Dabei kann man aber nicht stehen bleiben, denn alleine mit den zusammenhanglosen Bestandteilen einer möglichen Welt können wir Menschen nicht leben, sondern wir müssen es rekonstruieren oder neu konstruieren, am besten nach bestem Wissen und Gewissen. Die optimale geistige Reife für den richtigen Umgang mit diesem Problem nenne ich „Weisheit“, das wahre Ziel der Philosophie (bzw. Filosofie).

Gerade im Diskurs mit anderen Menschen kommen Übereinstimmungen und Unterschiede zu Tage, und es gibt die konstruktivistische Überzeugung, dass das wahr ist, was in einem solchen Diskurs von der den Diskurs führenden Gruppe von Menschen als wahr anerkannt wurde. Demzufolge gibt es in unterschiedlichen Gruppen unterschiedliche Wahrheiten, die sich wiederum in einem Diskurs zwischen den Gruppen zu einer für beide oder mehrere Gruppen gültigen Wahrheit vereinen, entweder indem eine der vertretenen Gruppenwahrheiten über die andere(n) siegt oder indem Kompromisse oder Synkretismen eingegangen werden. Nun stellt sich aber doch die Frage, ob diese diskursgebürtigen Wahrheiten auch eine Entsprechung in dem Bereich haben, der unabhängig von Wahrnehmung und Diskurs existiert. Diese Frage betrifft z.B. auch die menschliche Freiheit. Wenn eine Gruppe zu der Anschauung gelangt, der Mensch habe eine Freiheit des Willens und eine andere zu der, der Mensch sei auch in seinem Willen determiniert und eingebunden in ein Netz aus Ursachen und Wirkungen, welche Gruppe hat dann recht? Oben bin ich schon auf dieses Thema eingegangen und habe die Antwort offen gelassen. Fest steht jedenfalls, dass die Beantwortung dieser Frage schwerwiegende Folgen für das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft hat. Ein Offenlassen der Antwort scheint mir die beste Möglichkeit zu sein, um nicht eine ganze Gesellschaft auf eine diskursiv gewonnene Wahrheitsfestlegung zu verpflichten, und das scheint mir im Fall aller Fragen das Beste zu sein, die dermaßen komplex und in Bezug auf eine eindeutige Interpretation von Sinneseindrücken transzendent sind. Wir müssen es lernen, angesichts der ungeheuren Komplexität der Welt, die einerseits eine Projektion unseres Geistes ist und deren Teil andererseits eben dieser unser Geist ist, mit offenen Fragen zu leben. Der Projektor ist ein Teil der Projektion, die er projiziert. Das klingt schon verrückt! Ich kann die Fundamentalisten verstehen, die solche Sätze ablehnen und nach eindeutigen Wahrheiten dürsten. Sollen sie sich ruhig ein sicheres Gerüst bauen, ein eindeutiges Gitternetz, das sie auf die Matrix legen, wenn es ihnen hilft, glücklich zu sein, sofern sie damit keinen Schaden anrichten, außer dass sie vielleicht sich selbst betrügen! Das ist wie mit Alkoholikern: Wenn sie das Dasein im Rausch besser ertragen, sollen sie sich ruhig betrinken, solange sie damit niemandem sonst schaden! Der Eine braucht eine Droge, der Andere ein sicheres Weltbild, soll doch jeder nach seiner Façon selig werden! Ich wünsche mir jedoch, dass der Alkoholiker weiß, dass sein Rausch unter Alkoholeinfluss zustande kommt und die Wirklichkeit ohne Alkohol anders aussieht und dass der Fundamentalist weiß, dass er ein stabiles Weltbild braucht, damit seine Psyche stabil ist, und dass die Wirklichkeit für sich nicht auf diese Weise festlegbar ist, sondern nur die Wirklichkeit für ihn. Vielleicht wären aber Rausch und Fundamentalismus witzlos, wenn ihre Anhänger um ihre Bedingtheit wüssten. Gut, wer sich gerne betrinkt, weiß wie es ist, wenn die Wirkung nachlässt, aber wer von der Plausibilität eines eindeutigen Weltbildes überzeugt ist, kann nicht leicht auf die Metaebene wechseln und sein eigenes Weltbild von oben oder außen betrachten. Könnte er dies wirklich, wäre es nicht sein Weltbild, sondern nur ein Gedankenspiel. Wer aber wählt sich ein Weltbild, von dem er weiß, dass es letztlich nur ein Gedankenspiel oder ein seinen psychischen Bedürfnissen adäquates Konstrukt ist, als sicheres Fundament? Wer die konstruierte Natur unserer Weltbilder erkannt hat, neigt doch eher dazu, in das Extrem der Beliebigkeit abzutriften, das aber letztlich jedes menschliche Miteinander unmöglich macht, da jede Gemeinschaft nichtinstinktgesteuerter Wesen Werte und Normen braucht, an deren Gültigkeit und Wahrheit ihre Mitglieder glauben.

Was also ist zu tun?

Nun ist es ja so, dass selbst der freieste Geist nicht einfach so aus sich heraus existiert, sondern auch seine Gedanken, Gefühle, Stimmungen, Meinungen, Urteile und damit seine ganze Selbst- und Weltwahrnehmung und –konstruktion auch beeinflusst durch seine spezielle kulturelle Sozialisation ist. Das was wir von anderen Menschen wahrnehmen, beeinflusst uns. Teils übernehmen wir es, teils lehnen wir es ab, aber selten lässt es uns völlig unberührt. Die kulturelle Sozialisation ist ein Teil unserer Identität. Das Beste scheint mir nun, diese sozialen Wurzeln kritisch und kreativ zu pflegen und so unsere soziale und unsere individuelle Identität zu einem harmonischen Ganzen reifen zu lassen. Dazu ist es aber notwendig, dass wir uns mit der Geschichte unserer Kultur beschäftigen, sowohl mit der Geschichte der äußerlich realen Begebenheiten, als auch mit der Geschichte der Ideen. Wir sehen dann bald, dass realpolitisches Verhalten und normative Vorstellungen keineswegs immer identisch waren und auch weiterhin nicht sind. Das kann dann teils daran liegen, dass die Menschen vordergründig Moral predigen, hinten herum aber diese selbe Moral nicht leben, aber auch daran, dass eine völlig unrealistische Moral gefordert wird, die uns Menschen überfordert. Damit müssen wir uns kritisch auseinandersetzen und unseren Weg auf diesem Drahtseil finden. Man kann tatsächlich aus der Geschichte lernen, wenn die selbe auch immer wieder beweist, dass der Mensch an sich es nicht tut, wohl weil jeder neugeborene Vertreter unserer Art seine eigenen Erfahrungen machen will oder aber weil er nicht lernen will oder weil er zwar lernen will, aber andere Schlüsse daraus zieht oder gänzlich andere Wertvorstellungen hat als mir jetzt vorschweben.

Ich habe als hohen moralischen Wert die Wahrhaftigkeit erkannt (oder erfunden?). Dazu gehört, dass ich keine Moral predigen will, die ich nicht einhalten will oder kann. Dazu gehört, mir (und vertrauenswürdigen anderen) einzugestehen, wenn ich zu hohe Forderungen an mich gestellt habe, denen ich nicht nachkommen kann. Diese Wertschätzung der Wahrhaftigkeit habe ich nicht willkürlich erfunden, sondern sie entwickelte sich in mir durch Einflüsse zahlreicher Menschen der Vergangenheit und Gegenwart. So mancher sagt aber, ich lernte nicht aus der Geschichte, denn selbige lehre doch, dass wahrhaftige Menschen immer wieder auf der Verliererseite stehen und die Lügner und Betrüger die Gewinner sind. Es ist wohl doch nicht so einfach, aus der Geschichte zu lernen. Jedenfalls lebt in mir der Traum einer reifen Menschheit, die immer weiter reift, lernt und an Weisheit zunimmt. Und diese Utopie ist ein Bestandteil meiner Kultur, und vieler Kulturen der Menschheit. Nähme man mir diese Utopie, diesen Traum, nähme man mir einen wichtigen Teil meiner Identität, meiner Person.

Ich glaube daran, dass eben dadurch, dass jeder Mensch auch Ergebnis einer Sozialisation ist, er auch Ursache der Sozialisation anderer Menschen sein kann. Nun ist es so, dass wir Menschen nicht nur Vernunftwesen sind, sondern viel ältere Triebe uns viel mehr steuern, als wir manchmal wahrhaben wollen. Der Herdentrieb ist einer davon und für diesen Essay besonders wichtig. Er führt nämlich dazu, dass man sich gerne als Teil einer Gruppe, deren Schutz vor den Gefahren des Lebens man genießt und nicht verlieren will, empfindet und eine Gruppenidentität dadurch mit aufbaut, dass man sich den Verhaltensweisen, die man bei den anderen Gruppenmitgliedern beobachtet, anpasst. Dieser Trieb ist durchaus zweckmäßig, da er die Gruppe zusammenhält, was auch für den Einzelnen existenzielle Sicherheit und psychische Stabilität bedeuten kann. Das führt dann oft dazu, dass abweichendes Verhalten geächtet wird, weil die Vertreter der Gruppennorm Angst vor einer gruppenzersetzenden Wirkung des abweichenden Verhaltens haben, was unter Umständen das Leben der Gruppenmitglieder gefährden kann. Dieses Devianzabwehrverhalten ist uralt und schon bei Tieren anzutreffen, wird also wohl nicht durch unser Großhirn gesteuert, doch das weiß ich nicht genau. Meines Erachtens liegt diese Verhaltensweise auch religiösen Apostasieverfolgungen zu Grunde.

So zweckmäßig für den Gruppenzusammenhalt auch Gruppennormen sein mögen, so wenig müssen diese Normen vernünftig sein. Und gerade hier setzt meine Kritik an. Wir befinden uns nicht mehr in einer gesellschaftlichen Situation, in der jedes Verhalten von Gesellschaftsmitgliedern uniformiert sein muss. Vielmehr ist es so, dass die einzelnen Untergruppen der Gesellschaft einander überlappen und viele oder gar alle Menschen zugleich Mitglieder verschiedener Untergruppen sind oder gar verschiedener Großgesellschaften, wie Staaten oder Ethnien. Wenn man davon ausgeht, dass wir Menschen uns in erster Linie an überschaubaren Kleingruppen orientieren und uns mit ihnen identifizieren, wie die Verhaltensforschung lehrt, dann kommen wir unter Umständen ganz schön in Schwierigkeiten, wenn wir wie ein Chameleon bei jedem Wechsel von einer Kleingruppe, deren Mitglied wir sind, z.B. die Firma, in der wir arbeiten, in eine andere, z.B. ein Verein, unsere Verhaltensweisen wechseln müssen. Okay, es gibt Leute, die meistern dies vorzüglich und legen je nach Kontext eine andere Maske an. Das lateinische Wort für Maske ist persona, doch bezeichnet unser heutiges Personverständnis eben nicht nur die gesellschaftliche Rolle, die ja je nach Kontext wechseln kann, sondern unsere unverwechselbare und unaustauschbare Identität. Diese Identität ist Sitz unserer Würde, nicht die ein oder andere Rolle, die wir annehmen. Damit möchte ich nicht bezweifeln, dass es unter Umständen sinnvoll und notwendig ist, einem Amt eine besondere Würde zu verleihen, die unabhängig von seinem Inhaber ist. Idealerweise aber wachsen unsere Rollen aus unserer Identität heraus und sind das nach außen Sichtbare unseres wahren Seins. Ist das nicht so, ist jede Rolle bloßes Spiel, eine Maske, deren Image sehr anfällig für Entlarvung ist. Imagepflege in diesem Sinne lehne ich ab. Imagepflege ist aber da notwendig, wo es darum geht, unsere wahre Identität kommunizierbar zu machen, denn Missverständnisse gibt es immer wieder. Dazu soll unter anderem auch dieser Essay dienen.

Kommunizierbarkeit erfordert es bisweilen, Kompromisse einzugehen. Wenn man dazu nicht fähig ist, droht der Eigensinn zu einer fanatischen Ideologie zu werden, die auch ihrem Inhaber nicht viel nützt, soweit er nicht in der Lage ist, vollkommen autark und ohne Sozialkontakte zu leben. Es gibt zwischen originalgetreu tradierter Volksmusik und Freejazz immer auch sinnvolle Zwischenstufen, um es mal musikalisch auszudrücken, wobei auch nicht zu vergessen ist, dass auch traditionell gespielte Musik immer in der ein oder anderen Weise von ihrem Spieler interpretiert ist und dass auch Freejazz irgendwo an schon vorhandene Musiken andockt. Übrigens sind mir, was Musik anbelangt, die Traditionsbewahrer und die freien Experimentalisten in gleicher Weise sympathisch, und das eigentlich nicht nur in Bezug auf Musik, denn beides, das Bewahren und das Experimentieren beweisen gerade in unseren Zeiten, die von ständig sich wechselnden Moden bestimmt sind, bei denen die Meisten eher Mitläufer als Akteure sind, eine ordentliche Portion Eigensinn. Die ideale Umgangsweise mit Kultur ist meines Erachtens gut in dem Spruch Gustav Mahlers ausgedrückt, der auf S. 1 im Programm des 2002er Tanz & Folk Festes in Rudolstadt abgedruckt ist: „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.“

Der Umgang mit Kultur, der mir nicht behagt, ist der der rein kommerziellen Zielgruppenausrichtung, wenn z.B. nur solche Musik produziert wird, von der sich die Auftraggeber oder auch die Produzenten erhoffen, möglichst viele zahlende Konsumenten zu erreichen. Das Ergebnis mag zunächst eine wettbewerbsbedingte Vielfalt der Musikstile sein, wird aber im Endeffekt eine Totaluniformierung sein, wie bei der Musik, wie sie im von Petr Pandula so genannten „Formatradio“ schon heute landauf landab gespielt wird, eine Popmusik, der man bald nicht mehr anhört, wo sie eigentlich herkommt und wer sie spielt, Hauptsache sie geht möglichst Millionen von Menschen ein und holt ihnen das Geld aus der Tasche. Ich bin nun kein Popmusikkenner, aber für meine Ohren scheint sich seit den 1980ern da nicht mehr viel verändert zu haben, wenn man von Techno absieht, das aber in sich einen sehr starken Hang zur langweiligen Einförmigkeit hat. Nun gibt es aber noch viele andere Musikstile, die ihre Nischen und Szenen finden, wenn sie auch zunehmend an den Rand gedrängt zu werden scheinen. Popmusik ist die musikalische Leitkultur unserer Zeit, international, aber kaum multikulturell, ein Einheitsbrei, immer gleich schön, immer gleich perfekt, wie ein Hamburger von ... na, Sie wissen schon.

Was Musik anbelangt – und Musik mag hier als pars pro toto gelten – idealisiere ich eine Musik, die aus gepflegten Wurzeln sprießt, die sehr tief reichen und auch schon zugeschüttete Quellen zu erschließen imstande sind, von dieser Nahrung bereichert dann aber neue Blüten und Früchte ausbildet, eine anders als die andere. Sicher mag es immer Ähnlichkeiten geben und zeitgenössische Übereinstimmungen und Moden, das soll auch ruhig sein, aber auch Musiker, die dem nicht folgen, müssen ihre Nische haben, ihre eigenen Wurzeln graben und ihre eigenen Früchte reifen lassen können.

So wie mit dem wechselseitigen Aufeinanderangewiesensein von Tradition und Innovation, so ist es auch mit Konvention und Individualismus. Auch ein Freejazzer wird nicht zufrieden sein, wenn seine Musik nur ihm selber gefällt, auch er braucht Bestätigung und Anerkennung. Und auch mein Eigensinn erwächst nicht nur aus mir heraus, sondern auch aus dem Diskurs mit Anderen, und da brauche ich auch Ähnlich- und Gleichgesinnte, damit ich meine Kultur nicht für mich alleine lebe, sondern auch mit anderen teilen kann. Es ist nun aber weder so, dass ich mich – außer natürlich bei demokratischen Abstimmungen über gemeinsame Zielsetzungen – nach einer Mehrheit richte, noch dass ich konfrontativ das Anderssein kultiviere. Je nach Kontext bin ich mal vollkommen mainstreamkonform, mal aber sehr deviant, wie es eben kommt. Das brauche ich nicht zu kultivieren.

Ich möchte dazu gerne ein paar Beispiele bringen:

Als Mensch der gerne Musik hört, bin ich kein seltenes Exemplar. Musik ist überall um uns herum, und wäre es nicht, wenn wir Menschen uns nicht daran erfreuen würden. Dass ich aber kaum Pop- und Rockmusik höre, sondern lieber Folk- und Weltmusik, macht mir schon einige Schwierigkeiten, wenn ich im Radio „meine Musik“ finden möchte. Ich liebe die besagte Musikrubrik, weil sie sich aus vielen unterschiedlichen ethnischen Traditionen speist, bisweilen auch vergessene Traditionen wieder ausgräbt, bisweilen aber jazzig experimentierfreudig daherklingt und auch Anregungen aus Pop und Rock aufnimmt, und das alles nicht so, dass daraus ein Brei entsteht, sondern ein Mosaik unterschiedlicher Stile und Subszenen. Es ist gut mit der Beschreibung von Christoph Dieckmann in der Zeit vom 17. Juli 2002 ausgedrückt, in der er schreibt, dass die 60 000 Besucher des Tanz & Folk Festes in Rudolstadt 60 000 verschiedene Konzerte erlebten. In Rudolstadt – ich war bisher auf zwei TFFs – fühle ich mich unter Sinnesgenossen oder Seelenfreunden, und fühle mich wohl dabei, gerade weil der Haufen der Musiker und Besucher so heterogen und bunt ist, und doch alle sowas wie eine Familie bilden. Ähnlich geht es mit beim WDR-Weltmusikfestival, beim Bonner Folktreff oder bei der Fiddlers Session. Aufgrund solcher Erfahrungen versuche ich durch meine Folkigen Rundbriefe oder als Mitarbeiter des Bonner Folktreffs, diese „meine Musik“ zu fördern und unter die Leute zu bringen.

Als Biertrinker bin ich in Deutschland auch ein Teil des Mainstreams, aber was Pils anbelangt, welches ca. 70 % des deutschen Bierumsatzes ausmacht, so ist mir dies in der Regel zu bitter, und macht bei mir nur ca. 10 % meines Konsums aus. Als Kölschtrinker gehöre ich in Köln keineswegs zu einer Minderheit, dadurch dass ich aber auch Alt liebe, erscheine ich wohl manchem Kölner als Vaterstadtverräter, d.h. würde es scheinen, wenn ich Kölner wäre. Und als Liebhaber süffiger heller und dunkler Biere die z.B. als Export, Spezial oder Festbier bezeichnet werden, oder auch malziger Bockbiere und fruchtiger Weizenbiere, bin ich in Bayern und Baden-Württemberg gut aufgehoben. Und von belgischen Bieren, besonders von dunklen Abdij- oder Trapistenbieren und von säuerlich-frischen Lambicbieren schwärme ich auch, und ebenso von britischen und irischen Ales, Porters und Stouts. Einen Bierpatriotismus, der Fremdeinflüsse verabscheut, und wie er in Deutschland leider weit verbreitet ist, teile ich nicht, wohl aber einen Anti-Bierinternationalismus, der nach amerikanischem Vorbild nur noch Biersorten produziert, die international gehen und sich überall verkaufen, weil sie keinen eigenen Charakter besitzen. Vielfalt erfreut, und das nicht nur auf der Bierbörse mit (laut Plakat) über 650 Biersorten im Angebot. Ich erinnere mich daran, dass bei einem Treffen mit ehemaligen Schulkamerad(inn)en unser ehemaliger Klassenlehrer Helmut Bahr hoch erfreut darüber war, dass wir zu ca. zehnt an einem Tisch saßen und jede(r) ein anderes Getränk vor sich stehen hatte. Was ich damals trank, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich Tee.

Als Teetrinker gehöre ich global gesehen schon einer Mehrheit an, in Deutschland aber einer Minderheit unter lauter Kaffeetrinkern. Meines Erachtens soll jeder trinken was ihm schmeckt und bekömmlich ist, aber dass ich in vielen deutschen Cafés nur eine Sorte schwarzen Tee angeboten bekomme ärgert mich schon, zumal ich von Luxemburg und den Niederlanden, wo auch viel Kaffe getrunken wird, weiß, dass man ohne viel Aufhebens auch mit Beuteltees gut zehn Sorten anbieten kann. Nun, in dem Teetrinkerland Ägypten bekommt man landesweit hauptsächlich nur zwei Sorten, die sich zudem noch sehr gleichen, aber die ägyptische Kultur war mir eh zu uniformiert: ein Volk, eine Religion, ein Tee. Na gut: zwei Religionen und zwei Tees. Aber nur eine Brauerei, die zwei Biersorten herstellt. Nun, vielleicht bin ich Wohlstandsbürger auch nur zu verwöhnt.

Wenn wir nun schon mal die Religion erwähnt haben, so bekenne ich freimütig, dass sie ein Thema mit sehr hoher Zentralität in meinem Leben darstellt. Ich wählte die Vergleichende Religionswissenschaft zu meinem Beruf, ein Fach, von dessen Existenz so mancher Gesprächspartner zum ersten Mal in seinem Leben hört, wenn ich ihm davon erzähle. Als Religionswissenschaftler gehöre ich also wieder mal einer Minderheit an, die es mit ihrem Selbstverständnis zwischen Abgrenzung und Interdisziplinarität nicht leicht hat. Zudem ist das Fach in sich sehr pluralistisch und auch hier gibt es Kämpfe zwischen Vertretern der unterschiedlichen Ansätze, wobei sich auch wieder Mainstream und Minderheiten ausbilden, je nach herrschender Mode mal so, mal so verteilt. Ich selber mag mich da gar nicht festlegen, sehe die Skepsis des empirisch-kulturwissenschaftlichen Ansatzes gegenüber den normativen Ansprüchen von Religionsphilosophen ein, achte aber auch die Religionsphänomenlogen, die eine Religionswissenschaft, die sich allein in positivistischen Methodologien ergeht, als zu eng ansieht, und mache nun selber mit bei dem Versuch, die Religionspsychologie in der hiesigen akademischen Fachwelt zu beheimaten. Meines Erachtens ist es hier wie anderswo: Verschiedene Ansätze ergänzen sich letztlich, wenn sie sich zunächst auch zu widersprechen scheinen. Und da sind selbstbewußte Wissenschaftler, die nicht opportunistisch dem Mainstream folgen, sondern selbigen durch eigene Ansätze sinnvoll ergänzen, nicht weniger wichtig, als die Protagonisten des Mainstreams, denen die anderen hinterherlaufen. Übrigens sind solche Protagonisten ja selber recht eigensinnige Leute, die zudem genug Wirkung auf ihre Mitmenschen ausüben, um sie von ihrer Sache zu überzeugen. Erst in zweiter Linie kommen dann die Opportunisten und die unreflektierten Nachmacher.

In Bezug auf die Religionen und ihre Vertreter und Anhänger ist die Religionswissenschaft gerade deshalb so wichtig, weil sie sich nicht die Wahrheitsansprüche der einen oder anderen Religion auf die Fahnen schreibt, sondern die Religionen so erforscht und beschreibt, wie sie sich mit menschlichen wissenschaftlichen, also nicht metaphysischen oder transzendentalen Erkenntnismethoden erforschen und beschreiben lassen. Aufgeschlossene Gläubige und Praktizierende der Religionen werden sich zwecks Selbsterkenntnis gerne den Spiegel vorhalten lassen, die religionswissenschaftlichen Erkenntnisse und Ideen in ihre Theologien und Philosophien einbeziehen und so wieder neues Forschungsmaterial für Religionswissenschaftler(innen) liefern. Eine kritische und selbstkritische Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen und Theorien der Religionswissenschaft seitens der religiösen Menschen kann diese vor Fanatismus und Extremismus schützen. Gerade darin liegt mein Ziel religionswissenschaftlichen Arbeitens. Und in diesem Sinne engagiere ich mich als Religionswissenschaftler im interreligiösen Dialog, z.B. im Rahmen von WCRP Köln / Bonn, bringe meine Ansichten mit ein und lerne von den Ansichten der anderen, und das alles dient dem friedlichen Miteinander der Menschen.

Gerade im interreligiösen Dialog sind eigensinnige Denker gefragt, die über den Tellerrand der religiösen Vorgaben, in die sie hinein sozialisiert wurden, gucken, die aber auch die wertvollen Früchte der eigenen religiösen und sonstwie weltanschaulichen Sozialisation in das Projekt des wechselseitigen Voneinanderlernens mit einbringen. Von vielen Menschen, denen unser Fach zunächst unbekannt ist, wird aber zumindest in der ersten Idee, die sie davon gewinnen, erwartet, dass wir uns gerade in dieser Richtung betätigen und sind enttäuscht, wenn sie erfahren, dass wir das eigentlich nicht tun, mit Ausnahme einiger eigensinniger Professoren und Studenten, die entweder nicht mehr oder noch nicht den Zwang des Sichanpassenmüssens an den Mainstream der fachinternen scientific Community spüren oder diesem Zwang trotzen. Diese befinden sich in Bezug auf die Erwartungen vieler Mitmenschen also keineswegs in der Minderheit, in den Reihen des eigenen geliebten Faches aber doch.

Und was oben schon erwähntes Röcketragen anbelangt, so befinde ich mich in der jetzigen Kultur unseres Landes und teilweise sogar global in einer Minderheit, wenn man alle Männer aller Zeiten zusammenzählte aber gewiss in einer Mehrheit. Das ist aber gar nicht so wichtig, sondern wichtig ist, dass gemäß meiner Interpretation der Sachlichkeit, mit der ich gelernt habe, an Themen heranzugehen, und gemäß meiner Interpretation der Emanzipation, nach der, wie ich gelernt habe, Männer und Frauen gleichberechtigt sind, es unziemlich ist, uns Männern das Tragen dieses schönen und bequemen Kleidungsstückes durch negative Sanktionen verbieten zu wollen und natürlich erst recht, dass wir es uns selbst versagen, nur weil es geschichtlich bedingt zur Zeit nicht üblich ist. Als Kind lernte ich den Spruch: „Wenn XY in den Rhein springt, springst Du dann auch?“ Nein, man muss wirklich nicht alles mitmachen, egal ob es üblich ist oder nicht, sondern sollte das tun, wovon man selber überzeugt ist. Der Fortschritt der Männerrockbewegung wird aber meines Erachtens nicht über den Weg des Verstehens vor sich gehen, sondern über den der Gewöhnung, zumindest was die Masse der Menschen angeht. Ich wünsche mir, das würde etwas schneller gehen, damit die Nachfrage steigt und die Kleidungsindustrie endlich mal genug Röcke für Männer anbietet, so dass man nicht so lange nach passenden und gefallenden Röcken suchen muss. Ich wünsche mir also, dass das Röcketragen für Männer zum Mainstream wird, allerdings darf daraus kein Rocktragezwang werden.

Als Hermann Hesse-Leser gehöre ich bestimmt auch keiner Minderheit an, oder doch einer recht starken mit guter Lobby, zumindest in diesem Jahr seines 125jährigen Geburtstages, in welchem zahlreiche Veranstaltungen zu seinen Ehren stattfinden, von denen ich leider keine einzige besuchen konnte.

Man sieht also, dass man mit ein und der selben Meinung oder Vorliebe je nach Kontext in der Minderheit und zugleich in der Mehrheit sein kann. Beim sozialverantwortlichen Eigensinn kommt es nicht darauf an, unbedingt etwas Besonderes sein zu wollen und auch nicht, anderen nach dem Mund zu reden, ohne dass man selber davon überzeugt ist. Ein sozialverantwortlich eigensinniger Mensch freut sich, wenn er mit seiner Sicht der Dinge anderen helfen kann, ihren eigenen Weg wiederum zum Wohle der Gemeinschaft zu finden, und er freut sich über Gesinnungsgenossen, mehr jedoch über eigensinnige Gesinnungsgenossen als über bloße Nachahmer und Nachschwätzer. Er geht aber auch seinen Weg, wenn er keine Gesinnungsgenossen findet und verteidigt seinen Standpunkt. Dabei geht er bisweilen Kompromisse ein, um nicht aufgrund einer Ideologisierung von Teilen seines Weltbildes eventuell wichtigere Bestandteile zu gefährden. Ein Märtyrer seines Eigensinns zu werden, halte ich nur in wenigen Fällen für gerechtfertigt. Kompromisse schließt er aber auch aus Liebe zu seinen Mitmenschen, die ihn aus welchen Gründen auch immer nicht verstehen können, was er respektieren wird, wenn er sieht, dass er auch nicht alles versteht, was andere so tun. So gibt es Grenzen des Eigensinns, und oft lässt sich durch geschickte Kompromisse viel mehr erreichen als durch Starrsinnigkeit.

Es geht nicht darum, hochnäsig auf die Menschen herabzublicken, die lieber in der Masse untertauchen, als wie Luther zu sagen: „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ Es geht erst recht nicht darum, die Menschen zu verachten, die sich eben mit dem identifizieren, was 70% der Anderen auch machen, sei es Pils oder Kaffee trinken, Fußball gucken, Popmusik hören oder Hosen tragen. Es soll jeder nach seiner Façon selig werden, aber auch die Verantwortung für seine Façon übernehmen.

Der beste Weg scheint mir jedoch der: Nach sorgfältiger Überprüfung und der Ansicht, dass etwas sinnvoll oder gar notwendig ist, sollte man es tun, auch wenn es unüblich ist, und wenn es einem unsinnig und albern vorkommt, sollte man es lassen, auch wenn es üblich ist.

Es tauchen aus der Masse von Leuten, die, bevor sie eine Meinung von sich geben, erst fragen, ob diese Meinung auch gerade in ist oder vielleicht schon wieder out, immer wieder eigensinnige Menschen auf, vor denen ich viel Respekt habe. Da ist der Religionswissenschaftler, der wacker die Fahnen der Religionsphänomenologie hoch hält und der, der sich tapfer und fleißig darum bemüht, die Religionspsychologie aus ihrem randständigen Dasein zu befreien und der, der wie Parcival nach dem Heiligen Gral nach einer diesem Fach eigentümlichen Methode sucht, um so die Eigenständigkeit des Faches zu retten. Da ist der Radioredakteur, der tapfer und geschickt verhandelt und so verhindert, dass Folk- und Weltmusik auch seine letzten Sendeplätze verliert und die Hobbymusikerin, die zuverlässig ihre Sonntagabende und viel Telefongeld opfert, um einen unkommerziellen Folktreff am Leben zu halten. Da ist der Brauer, der seine Spezialitäten braut, auch wenn er mit Durchschnittsbier mehr Kunden gewinnen könnte. Da sind die Kunden, die unvoreingenommen und neugierig auf Neues zugehen und es testen und nicht nach Mode und in gewissem Umfang auch nicht zuerst nach dem Preis fragen. Da ist die Muslimin, die konstruktiv alternative Interpretationsweisen von Koran und Sunna sucht, weil sie nicht daran glaubt, dass Gott den Männern die Befehlsgewalt über die Frauen gegeben hat. Da ist die christliche Theologin, die sich für den interreligiösen Dialog einsetzt, auch wenn ihre Vorgesetzen das nicht gerne sehen und wenn es ihrer akademischen Karriere nicht förderlich ist. Da ist der Lehrer, der seine Angst vor konventionalistischen Kollegen und lästernden Schülern überwindet, und im Rock zum Unterricht erscheint und sich dann freut, als er feststellt, dass er bei den meisten gut damit ankommt. Da ist der Mensch, der total aus dem Rahmen fällt, weil er sich nicht für Fußball interessiert, und dem die Fußballweltmeisterschaft oder auch die in Tischtennis so egal ist wie sonst kaum was in seinem Leben und der trotzdem seine Freude daran hat, wenn sich Menschen über ein Fußballspiel freuen, sofern sie ihn damit in Ruhe lassen. Da ist aber auch der Mensch, der sein Interesse an Fußball pflegt und dazu steht, auch wenn dies in seiner Clique als nicht gesellschaftsfähig gilt. Solche Menschen sind Rebellen, die für die Republik des Eigensinns gegen die Absolutheitsansprüche des Mainstream-Imperiums kämpfen, und sie sind zu achten und nicht zu benasrümpfen, und zwar während sie leben und nicht erst posthum!

Sozialverantwortlicher Eigensinn hat viele Gesichter. Entwickeln Sie das Ihre!

Nachtrag: Dieser Text entstand an mehreren Abenden im Juli 2002 nach erledigter Tagesarbeit oder zumindest von ihr ermüdet. Auch wenn ich ihn gewissermaßen veröffentliche, muss ich doch zugeben, dass ich so viel Neues nicht geschrieben habe, sondern Vieles von anderen Schreibern schon und auch besser geschrieben wurde. Der Text hat Brüche, Lücken, Wiederholungen und Inkonsequenzen. Auf solche bitte ich Sie, mich hinzuweisen, denn ich kann ihn bei Gelegenheit ja überarbeiten. Jetzt lasse ich ihn aber erstmal so, abgesehen von kleinen Ausbesserungen, die mir beim Korrekturlesen notwendig erscheinen. Sollte sich jemand durch eine Äußerung ungerechtfertigterweise beleidigt oder verletzt fühlen, so bitte ich darum, mich darauf hinzuweisen. Ich bin keineswegs unfehlbar, genau so wenig wie Hermann Hesse. Dieser Text ist nun aber meine eigene Art, die Dinge auszudrücken. Hier sitze ich, und ob ich auch anders kann, mag die Zukunft zeigen. Jedenfalls liebe ich nicht den Großen Bruder!