Sozialverantwortlicher Eigensinn
Es gibt nichts im menschlichen Leben, das nicht von irgendeinem Standpunkt aus gesehen sinnvoll und notwendig und zugleich von irgendeinem anderen Standpunkt aus gesehen albern und lächerlich erscheint. Wichtig ist es, den Standpunkt, von dem aus man eine Sache beurteilt, zu rechtfertigen.
Ich möchte nach dieser grundsätzlichen Vorbemerkung mein Konzept vom sozialverantwortlichen Eigensinn erläutern. Das Wort Eigensinn nehme ich von Hermann Hesse. Nun möchte ich ihm nicht nachplappern, denn das wäre weder ihm noch mir recht. Auch kenne ich sein Eigensinn-Konzept nicht genau genug, um hier und jetzt darüber referieren zu können. Eigensinn, das klingt zunächst sehr nach Egoismus, nach Sturheit, nach Starrsinn. Hesse aber meinte – grob gesagt – damit, dass jeder Mensch das leben soll, was aus ihm heraus will. In seinen Büchern „Demian“, „Narziß und Goldmund“, „Siddhartha“, „Unterm Rad“, „Steppenwolf“, „Klein und Wagner“ und anderen, und natürlich in den Textsammlungen „Eigensinn“ und „Eigensinn macht Spaß“ kann man nachlesen, was er darunter verstand. Es ist schon ein Egoismus, aber keiner, dem das Befinden der Mitmenschen gleichgültig ist. Das Adjektiv sozialverantwortlich hat Hesse meines Erachtens nicht verwendet, aber gelebt, wenn auch nicht in allen Lebenslagen. Er hat im Ersten Weltkrieg im Dienste des deutschen Kriegsministeriums die in französischen Lagern inhaftierten deutschen Kriegsgefangenen mit Literatur versorgt und gleichzeitig friedensliebende Aufsätze für die Zürcher Zeitung geschrieben, und er beantwortete jeden Leserbrief, ungeachtet der Schreibzeit und der Portokosten. Das ist Sozialverantwortung, und zwar die eines eigensinnigen Menschen, der nur das leben wollte, was aus ihm heraus wollte, und sich damit auch viele Feinde, oder zumindest scharfe Kritiker machte.
Ich setzte das genannte Adjektiv davor, um den scharfen, unversöhnlichen Klang des Substantivs etwas abzumildern. Das tue ich auch deshalb, weil in unserer heutigen Gesellschaft ohnehin schon ein großer Egoismus, der sich nicht selten hinter dem Ideal der Selbstverwirklichung versteckt, verbreitet ist. Was aber meine ich mit dem sozialverantwortlichen Eigensinn?
Nun, als Kind einer geistes- und kulturgeschichtlichen Entwicklung der europäischen Gesellschaft, die neben anderen wichtigen Epochen durch Renaissance und Aufklärung hindurch gegangen ist, sehe ich in jedem Menschen ein Individuum, das Teil einer Gemeinschaft ist. Ich sehe im Menschen also nicht in erster Linie die Teilhabe an der Gemeinschaft, aber auch nicht nur das einzelne Wesen. Jeden Menschen sehe ich als ein Wesen, das seinen ureigensten Weg gehen muß, wobei dieser Weg eingebettet ist in zahlreiche Situationsabhängigkeiten. Diese Situationsabhängigkeiten machen ja auch einen Teil des Individuums aus. Wir sind ein Produkt unserer Gene und unserer Umwelt und eventuell einer Größe X, die ich nicht näher bestimmen kann. Sollte es etwas wie Freiheit geben, ist sie in der Größe X grundgelegt, die aber meinem Verstand ein Mirakel ist, ein Wunder, von dem ich nichts weiß, das ich nur fühle.
Nun möchte ich hier keine alle Tiefen auslotende Anthropologie, auch keine Grundsatzgedanken über die Möglichkeit menschlicher Freiheit, was ich andernorts schon getan habe, vorlegen, sondern das meiner Ansicht nach ideale Verhältnis des einzelnen Menschen zu der Gesellschaft, deren Teil er ist, postulieren.
Wichtig ist mir zunächst folgendes: Jeder Mensch ist eine besondere Persönlichkeit, mit einer eigenen, unveräußerlichen Würde. Das haben die Verfasser unseres Grundgesetzes sogar zu einer juristischen Grundlage unseres Staates gemacht. Der Grundsatz der Unantastbarkeit der menschlichen Würde ist auch in der Erklärung der Menschenrechte der UNO festgelegt. Dessen ungeachtet, wird diese Würde immer wieder angetastet, verachtet, mit Füßen getreten, und zwar von Menschen, die auf ihre eigene Würde Wert legen, die der anderen aber nicht achten.
Amnesty international legt immer wieder Berichte vor über Inhaftierungen, Folterungen und andere Menschenrechtsverletzungen, die weltweit durch Regierungen, Militär, Polizei und andere Institutionen menschlicher Gesellschaften durchgeführt werden. Wir schimpfen oft darüber, dass so etwas heute noch möglich ist. Nun, es ist nur möglich, weil es Menschen gibt, die es irgendwie für richtig halten, so zu handeln, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, und weil es Menschen gibt, die das zwar für falsch halten, aber dazu schweigen aus Angst, selber zu Opfern zu werden, wenn sie den Mund aufmachen, eine leider nicht ungerechtfertigte Angst.
Wir verehren sehr Menschen wie Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Lech Walesa und andere Vertreter der individuellen und kollektiven Rechte der Menschen auf Selbstbestimmung in Fragen der Lebensführung. Wir verehren sie als Freiheitskämpfer, wie dereinst in nationalistischeren Zeiten Andreas Hofer oder Arminius den Cherusker. Ungeachtet der Spannungen, die sich zwischen individueller und kollektiver Betonung der Menschenrechte z.B. zwischen einem modern-westlichen und einem islamischen Verständnis ergeben, möchte ich unsere Verehrung der Freiheitskämpfer doch mal als bequeme Sesselfurzerei beschimpfen, solange wir in bequemen gesicherten Rechtsstati leben und mit all den Problemen, für deren Beseitigung besagte Menschen einstanden, persönlich nichts zu tun haben. Und wenn man genau hinschaut, erlebt man leider nicht zu selten, dass auch im Rahmen normaler gesellschaftlicher Konventionen Diskriminierungen stattfinden, sobald jemand aus der Reihe tanzt und anders ist als die anderen. Ethologen mögen sagen, das sei ganz normal bei Tieren, zu denen auch wir Menschen zählen, und man könne es schon bei Kindern beobachten, so möchte ich ungeachtet des Wertes, den die tierische und kindliche Unschuld als Symbol haben mag – etwa im Gegensatz zu einem verbildeten und krampfhaft gekünstelten Erwachsensein – doch normativ behaupten, dass es einem wahrhaft erwachsenen Menschen unreif anmutet, die Eigenarten nicht uniformierter Gesellschaftsmitglieder zu verurteilen.
Ich bringe mal drei Beispiele aus einem ganz äußerlichen Bereich, nämlich dem der Kleidung, in welchem ich als Mann, der gerne Röcke trägt, auch ein wenig aus dem konventionellen Rahmen falle.
Man stelle sich vier Männer vor, deren einer einen großen Hut trägt, etwa einen Stetson, deren zweiter einen Rock trägt, etwa einen Jeansrock, deren dritter einen Anzug mit Hose, Jackett und Krawatte trägt und deren vierter mit Jeanshose und T-Shirt bekleidet ist. Sollte man zu den Menschen gehören, die darüber nachdenken, warum sich ein Mensch so oder so kleidet, könnte man zu folgenden Überlegung kommen:
Zu dem Mann mit dem großen Hut:
Will er sich vor der Sonne schützen?
Kommt er aus einem Land, in dem man solche Hüte trägt, etwa aus Texas?
Will er auffallen und sich wichtig machen?
Ist er ein kindgebliebener Mann, der gerne Cowboy spielt?
Ist er ein Schauspieler mit Kostüm?
Hat er den Hut als Souvenier von einer Reise mitgebracht?
Zu dem Mann mit dem Rock:
Ist es ihm in Hosen zu unbequem oder zu warm?
Kommt er aus einem Land, in dem man Röcke trägt, etwa aus Schottland?
Trägt er gerne Frauenkleidung, etwa weil er sexuell irgendwie anders orientiert ist als hetero- und cissexuell, also homo- oder transsexuell, transvestitisch, fetischistisch oder sonstwie?
Will er gerne auffallen und sich wichtig machen?
Sind seine Hosen alle in der Wäsche, und hat er sich einen Rock ausgeliehen?
Findet er Röcke schöner als Hosen?
Zu dem Mann mit dem Anzug:
Kommt er von oder geht er zu einem Fest?
Will er mir was verkaufen?
Findet er Anzüge und Krawatten schön?
Wurde er dazu gezwungen, sich so unbequem zu kleiden, etwa von seinem Chef?
Ist er ein unsicherer Mensch, der sich so kleidet, um nicht negativ aufzufallen und seine Unsicherheit zu verbergen?
Liebt er es, sich zu uniformieren, um in der Masse unterzugehen?
Will er gerne den Chef spielen?
Zu dem Mann mit Jeanshose und T-Shirt:
Kleidet er sich gerne bequem?
Legt er Wert auf unauffällige Kleidung?
Ist er ein IT-Spezialist, der auf Grund seiner Fachkompetenz nicht der Pflicht unterliegt, einen Anzug zu tragen?
Hat er Urlaub?
Ist er auf dem Weg zu oder kommt er von einer Arbeit, die praktische Kleidung erfordert?
Ist er ein Fan amerikanischer Freizeitkleidung?
Man sieht also, dass es jeweils mehrere Möglichkeiten gibt, die Kleidungswahl eines Menschen zu interpretieren. Vielleicht kommen uns sehr schnell Assoziationen in den Kopf, die in über 50% der Fälle auch der Wahrheit entsprechen mögen. Doch scheint mir auch eine mögliche vielleicht 20%ige Fehlerquote zu hoch, als dass wir uns erlauben könnten, einer anerzogenen Spontanbeurteilung vollends zu vertrauen. Unsere Gesellschaft heute ist schon zu pluralistisch, als dass Pauschalurteile eine Chance hätten, in mehr als acht von zehn Fällen zuzutreffen.
Nun könnte man ja der Überzeugung sein, dass die vielleicht 20% der Menschen, auf die ein Spontanurteil nicht zutrifft zu verkraften sind, und sie selber schuld sind, wenn man ihre Devianz falsch einschätzt. Das wäre jedoch eine Überzeugung, der ich scharf widersprechen muss. Man stelle sich einen Menschen vor, der sein Auto nicht abschließt und den Zündschlüssel stecken lässt, worauf ein Dieb den Wagen stiehlt. Wem ist nun die Schuld zuzuschreiben? Die Versicherung wird sicher dem Wageneigentümer die Zahlung einer Entschädigung verweigern, weil er fahrlässig gehandelt hat. Das Gericht aber wird nicht den Wageneigentümer wegen seiner Fahrlässigkeit verurteilen, sondern den Dieb, weil er einen Diebstahl beging. Der Dieb kann also seine Verantwortung nicht auf den fahrlässigen Eigentümer abwälzen und sagen, es sei doch selber schuld. Ähnlich ist es aber mit einem sich irgendwie ungewöhnlich kleidenden Menschen: Er muss zwar damit rechnen, auf Grund uralten, tierischen Devianzabwehrverhaltens ausgegrenzt oder zumindest dumm angemacht zu werden, die Verantwortung für das Diskriminierungsverhalten aber liegt immer bei dem, der es anwendet. Würde man sie ihm nehmen, nähme man ihm seine Menschenwürde, die immer mit Freiheit und Verantwortung verbunden ist. Also darf man jeden Menschen, der ganz uneigensinnig das tut, was man eben tut, weil man es eben tut, getrost die Frage stellen, warum er es tut und von ihm eine Rechtfertigung erwarten. Das bedeutet, dass uniformiertes Verhalten genau so der Rechtfertigung bedarf wie eigensinniges. Wer die Verantwortung abgibt an Sitten und Gebräuche, Vorgesetzte und Befehle, eine heilige Schrift oder Tradition, die öffentliche Meinung oder die Marktlage, der entäußert sich selbst seiner Menschenwürde. Das klingt hart, man müsste es auch noch mal im Detail überdenken. Aber die Denkrichtung stimmt. Ich möchte damit auch nicht behaupten, wir könnten vollkommen frei sein von all dem und auch nicht, dass all das keinen Wert hat, aber sehr wohl, dass die Souveränität der Wahl, welches Gewicht wir all dem geben, bei uns liegt, bei jedem einzelnen von uns, bei mir und bei Dir und bei Lieschen Müller, 08/15 und Otto Normalverbraucher.
Natürlich kann man fragen, wieviel Verantwortung ein Mensch überhaupt tragen kann, wieviel Freiheit er verträgt. Wenn ich mal davon ausgehe, dass wir Menschen von allen Lebewesen der Erde am wenigsten instinktgesteuert oder sonst wie in unseren Handlungen genetisch vorprogrammiert sind, dann scheint das Lernen doch für uns eine immens wichtige Rolle zu spielen, wenn es darum geht, Orientierung im Leben zu finden. Wesentliche Dinge lernen wir anscheinend schon in der frühen Kindheit, weitere wichtige in der Jugend, und nur noch Weniges als Erwachsene. So war das über Jahrtausende auch richtig, denn die Lebensbedingungen veränderten sich nur langsam, und unsere Vorfahren lebten in kleinen, überschaubaren Gruppen mit recht stabilen Lebensregeln. Heute ist es anders: Ständig verändert sich die Gesellschaft, ständig kommen technische Neuerungen hinzu und auch neue Ideen, wie Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und auch Religion zu praktizieren sind. Das erfordert entweder ständige Anpassung oder einen stabilen Standpunkt, der uns Sicherheit gibt. Das sind auch eben die beiden antipodialen Überlebens- bzw. Orientierungsstrategien, die am häufigsten anzutreffen sind. Es sind zwei Extreme, das ständige Hinterherrennen hinter den Veränderungen und das sture, fundamentalistische Verharren auf einem Standpunkt, an dem man sich gewöhnt hat und mit dem man sich zurecht findet. Beide Standpunkte haben indes gemeinsam, dass sie tendenziell uns Menschen uniformieren. Denn Anpassungen an Veränderungen sind sich bei gleichen Veränderungen stets zumindest ähnlich. Man folgt dem Diktat der Mode oder des Marktes, das heute diese, morgen jene Qualitäten von einem Menschen verlangt, die zwar ständig wechseln, aber zu einem Zeitpunkt einander sehr ähnlich sind. Der Fundamentalismus verlangt eine Treue zu einem fest gelegten Standpunkt nach Möglichkeit von vielen Menschen, da eine große Anzahl von Gesinnungsgenossen die Plausibilität des Standpunktes für den Einzelnen erhöht. Das praktische Ergebnis beider Standpunkte ist aber, dass sich in der Gesellschaft gegeneinander arbeitende oder gar kämpfende Untergruppen bilden, denn es gelingt nie, liberalistisch alle Menschen gleichermaßen an die sich verändernden Bedingungen anzupassen, sondern es entsteht ein Wettbewerb um die Ressourcen, die Märkte, die Arbeitsplätze usw., und es wird auch nie gelingen, alle Menschen fundamentalistisch auf einen Standpunkt einzuschwören, sondern auch hier entsteht ein Wettbewerb der Sinndeutungs- und Welterklärungsangebote, die jeweils mit unerschütterlichem Absolutheitsanspruch um die Ausweitung ihres Geltungsbereiches kämpfen. Das ist aber die Situation in unserer Gesellschaft, in der wir uns zur Zeit befinden.
Der sozialverantwortliche Eigensinn ist eine Alternative dazu. Gewissermaßen ist er auch ein Mittelweg zwischen den Extremen, gewissermaßen ist er aber auch selbst extrem, je nachdem, von welcher Perspektive aus wir ihn betrachten.
Es geht keineswegs darum, die Gesellschaft zu verachten, zu bekämpfen oder sich ihr zu verweigern! Ich selber habe drei Jahre meines Lebens die schwarz-rot-goldene Flagge auf oliv betuchtem Oberarm getragen, bereit, diese unsere bundesrepublikanische deutsche Gesellschaft mit meinem Leben gegen Angreifer zu verteidigen. Ich war nicht gerne Soldat, wenn ich als Kind auch von allem Militärischen begeistert war. Als Jugendlicher und Erwachsener entwickelte ich mich jedoch mehr und mehr zum Pazifisten. Doch anders als Hesse bin ich der Auffassung, dass man das Militär nicht denen überlassen sollte, die ohnehin Raufbolde sind, denn dadurch würde das Militär zu einer gefährlichen Institution, sondern ich bin dafür, dass gerade die Friedliebenden Soldaten sein sollen, denn es geht ja nicht darum, Krieg zu führen, sondern durch ein Zusammenspiel von vertrauensbildenden Maßnahmen und Abschreckung Krieg zu verhindern. Im Falle des Nato-Warschauer-Pakt-Konfliktes ist uns das gelungen. Was weiter wird, weiß ich nicht. Jedenfalls ist mir besagte Flagge gewissermaßen heilig, denn sie steht gerade für die Werte, die mir gesellschaftlich wichtig sind, nämlich Demokratie, Freiheit, Einheit im Pluralismus, das eben, wofür die Jenaer Burschenschaft und der Frankfurter Bundestag im 19. Jahrhundert gegen freiheitsunterdrückende Fremdherrschaft und obrigkeitliche Kleinstaaten eingetreten sind. Der sozialverantwortliche Eigensinn ist in gewissem Sinn eine Fortführung dieser Ideale.
Man darf mich also in zweifacher Weise nicht mißverstehen: weder schwärme ich von einem nationalen Staat, der mit einer heiligen Flagge als Symbol seine Bürger in sich vereint und vereinheitlicht, noch von einer Anarchie, in der jeder das tut, was ihm gerade so gefällt. Ich bin im Vergleich zu Hesse ein wenig staatsfreundlicher, weil unsere westeuropäischen Staaten heute andere sind, als die zu seiner Zeit. War damals noch ein hurra-patriotischer Nationalismus die stärkste Kraft in der westeuropäischen Gesellschaft, so ist es heute der Neo-Liberalismus. Wenn wir nun also ein Feindbild brauchen, so dieses. Vielleicht kommen wir aber auch ohne Feindbild aus.
Es geht nicht in erster Linie darum, gegen etwas oder jemanden zu protestieren, sondern darum, die in jedem Menschen innewohnende Kreativität zu aktivieren. Es geht um das thelemitische „Tu was Du willst!“, das ich allerdings in der Version Michael Endes, wie er es in „Die Unendliche Geschichte“ dargelegt hat, kenne. Es geht nicht darum, immer das zu tun, wozu man gerade Lust hat, sondern darum, erst einmal zu entdecken, was die eigenen Wünsche überhaupt sind. Glück erlangen und Leid vermeiden sind sicher grundlegend menschliche Wünsche, gewissermaßen anthropologische Konstanten. Bisweilen ist es aber ein langer Weg, bis man die eigene, individuelle, persönliche Variante dieses Wunschpaares gefunden hat, eine Suche, die der mythischen nach dem Heiligen Gral oder der romantischen nach der Blauen Blume entspricht. Irrwege sind ein normaler Bestandteil des Weges, ja sind eigentlich ein Bestandteil des Suchers, der letztlich nicht getrennt ist von seinem Weg, solange er ihn geht. Und es scheint mir auch gar kein endgültiges Ziel vorhanden, sondern das Ziel ist erreicht, wenn man seine eigene Weise gefunden hat, den Weg zu gehen.
Ich habe nicht das Format der oben erwähnten politischen Freiheitskämpfer. Das ist nicht mein Weg, so wie ich ihn zur Zeit kenne. Mein Weg ist die Wirksamkeit in meinem Kreise, wie Adalbert Stifter es nannte, der zur Zeit der deutschen Kleinstaaten nach dem Wiener Kongreß lebte. Polizeiliche Überwachung erstickte jedes demokratische Bestreben der Bürger, deren erste Pflicht es war, ruhig zu sein, im Keime. Stifter schrieb seine regimekritischen Schriften dermaßen verschlüsselt, dass ich ihnen gar nicht ansah, dass es überhaupt solche sind. Das erfuhr ich erst, als ich eine Interpretation las.
So verstecken muss sich heute niemand. Unser Staat ist offener, freiheitlicher. Opponenten und Satiriker dürfen offen sprechen und schreiben. Der Staat als solcher ist nicht das große Objekt meiner Kritik, wenn es im Detail auch viel zu kritisieren gibt. Ich wünschte mir sogar stärkere Staaten, die die wirtschaftliche Globalisierung in menschenfreundliche Bahnen lenken könnten, anstatt sie völlig der Macht und dem Wettbewerb undemokratischer multinationaler Konzerne zu überlassen. Die grauen Männer aus Michael Endes „Momo“, die CWNU-Agenten aus meiner Geschichte „Antes Mission“ sitzen überall in den Chefetagen oder tingeln durch die Lande auf Kundenfang, und sie stecken mit ihrer Sichtweise die einfachen Menschen an, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche ist in vollem Gange. Der Gmork ist unterwegs und gaukelt den Leuten phantásische Geschichten als käuflich erwerbbare Wirklichkeiten vor.
Was sollen all die Anspielungen auf phantastische, belletristische Literatur? Ist das nicht unseriöses Zeug? „Was Du nicht kennst, das meinst du soll nicht gelten, du meinst, dass Phantasie nicht wirklich sei? Aus ihr allein erwachsen künft’ge Welten: In dem, was wir erschaffen, sind wir frei!“ (aus Michael Endes „Das Gauklermärchen“). Oh ja, die Werbefachleute wissen genau, wie sie die Macht der Phantasie für eine Umsatzsteigerung nutzbar machen können. Die Kunden folgen ihnen in ihr Phantásien, statt in ihr eigenes zu reisen. Ein notwendiger Erkenntnisakt wäre es wohl, das eigene Weltbild als Konstruktion zu erkennen und herauszufinden, wer es konstruiert hat, dann die Baupläne zu übernehmen, und Herr im eigenen Haus zu werden und eigenverantwortlich und frei selbst zu konstruieren und zu dekonstruieren.
Michael Ende sagte mal bedauernd, dass es keine Käuze mehr gäbe, womit er nicht die Vögel meinte, sondern eigensinnige Menschen, die aus dem Rahmen uniformer Normalität fallen. Nun, ich kenne solche Käuze, es gibt sie noch. Und es wäre mir eine Ehre, ein solcher Kauz zu sein, aber es ist nicht eigentliches Ziel meines Weges. Ein Kauz, der sein Kauzsein als Image pflegt, ist wohl auch kein echter. Echte Käuze werden es ungewollt in dem sie ihrem Willen folgen, der sie einen Weg gehen läßt, der nicht dem gesellschaftlichen Mainstream entspricht. Käuze sind eher gesellschaftliche Produkte und entstehen durch Devianz und Ausgrenzung. In einer wirklich reifen Gesellschaft gäbe es keine Käuze, nicht weil alle an den Mainstream angepasst wären, sondern weil es keinen Mainstream gäbe, für den ein Absolutheitsanspruch postuliert würde.
Ich habe nicht grundsätzlich etwas dagegen, dass es einen Mainstream gibt, denn es gibt Menschen, deren ureigenstem Wesen es entspricht, der Herde zu folgen. Das sollen sie ruhig tun, dann aber auch dafür einstehen, dass sie es tun, weil es ihnen entspricht und nicht, weil man das so tun muß. Es gibt keinen Grund, auf Herdenmenschen herabzublicken, denn jeder Mensch hat seine wertvollen Besonderheiten, auch innerhalb einer Herde oder Mainstreamgesellschaft. Überdies gibt es diese hier überspitzt formulierte Dichotomie selten in dieser Form, sondern die allermeisten von uns stecken irgendwo dazwischen. Nun gilt es aber zu erkennen, wo man dazwischen steckt und weder sich dort an den Mainstream anzupassen, wo er einem nicht entspricht, noch ihm dort zu widersprechen, wo er einem entspricht, wohl weil man meint, ein Individualist zu sein. Es gibt auch Herden von Individualisten, so wie in „Das Leben des Brian“: „Ihr seid alle Individuen!“ – „Wir sind alle Individuen!“ – „Nein, ich nicht!“
Es steht jedem Menschen frei, Angst vor zu viel Freiheit und Verantwortung für seine Entscheidungen zu haben und sie an jemand anders abzugeben. Das gehört auch zur Vielfalt menschlicher Lebensmöglichkeiten. Das sei zur Abmilderung des weiter oben Formulierten gesagt. Nun soll ein solcher Mensch aber zumindest für den Schritt der Verantwortungsabgabe die Verantwortung tragen und es als seine eigene Entscheidung annehmen und zugeben und nicht von jedem anderen erwarten, dass er es genau so tut. Auch muss nicht jeder seine Entscheidungen rational erklären, sondern darf ruhig aus dem Bauch heraus handeln, auf der Grundlage klarer, aber auch diffuser Gefühle. Aber dann soll er dies zugeben und nicht so tun, als habe man allgemein so zu handeln.
Was ich partout nicht ausstehen kann, ist, wenn von Mainstream-Menschen ein sozialer Druck ausgeht, der jeden anfeindet und ausgrenzt, der sich nicht einordnet und anpasst!
Ich bewundere den Polizisten, der Erziehungsurlaub nahm, auch wenn seine Kollegen, in deren kollektives Männlichkeitsbild das nicht passte, ihn darauf hin verspotteten. Ich bewundere die Frauen, die in einer patriarchalischen Gesellschaft für ihre Rechte kämpfen, aber auch die Männer, die gegen ein Zuviel des Feminismus protestieren. Ich bewundere die Frauen, die sich die Akzeptanz erstritten, in jeder gesellschaftlichen Situation Hosen tragen zu dürfen und bin stolz darauf, nun umgekehrt für die Akzeptanz von röcketragenden Männern zu arbeiten. Ich bewundere die Musliminnen, die sich vom religiösen Zwang, ein Kopftuch zu tragen, befreien, aber auch die, die sich gegen den umgekehrten Druck einer säkularen Gesellschaft durchsetzen und ihr Kopftuch öffentlich tragen. Ich bewundere die Politiker, die den Konventionen zum Trotz statt in Anzügen und Krawatte mit Jeans und Turnschuhen in den Bundestag einzogen, auch wenn sie nun auf internationaler Ebene das leider nicht durchhalten, weil die Regierung vom „land of the free“ derartige Freiheiten nicht duldet.
Es ist übrigens schon ein Skandal, wie sehr die Regeln, die in einer Gesellschaft aufgestellt werden gerade von gesellschaftstragenden Personen gebrochen werden. Z.B. opponieren gerade solche Männer, die Sachlichkeit und Ratio fordern am stärksten gegen die Männerrockbewegung, ohne auch nur ein sachliches und rationales Argument vorbringen zu können. Sie schämen sich wohl dafür, dass diffuse Gefühle und Anhaftungen an Gewohnheiten an den Status quo die wahren Gründe sind. Ich habe Achtung vor den Männern, die diese Gründe haben und auch zugeben. Ich kenne auch Männer die das tun, meine aber, dass diese in der Minderheit sind. Die gesellschaftlichen Konventionen halten also bisweilen den Denkregeln, die die Gesellschaft aufgestellt hat und propagiert, nicht stand, und trotzdem werden sie hartnäckig verteidigt. Doppelmoral ist ein Schimpfwort und doch auch heimliche Konvention. Meines Erachtens dienen Gesellschaftkritiker der Gesellschaft oft mehr als Konventionalisten, zumindest wenn diese Konventionalisten aus ihren eigenen Anhaftungen an Gewohnheiten heraus andere Menschen zu eben diesen Gewohnheiten verpflichten wollen und ihre wahren Motivationen nicht zugeben wollen, sondern sich lieber in der Masse von Mitmenschen verstecken, die die gleichen Gewohnheiten haben und lieb haben, diese Liebhaberei aber wiederum nicht als solche zugeben, sondern ihrerseits auch wieder lieber anonym in der Masse untertauchen wollen. Wer eine Liebhaberei, z.B. liebgewonnene Gewohnheiten hat, soll dazu stehen und sie rechtfertigen oder aber sie verwerfen, aber er soll sie nicht zur Handlungsmaxime für alle anderen machen und soll sich auch nicht davor schämen, zu ihnen zu stehen, und die Verantwortung anderen, und sei es der anonymen Masse, dem anonymen „Das tut man so!“ aufladen.
Es geht also keineswegs darum, nicht auf die Wünsche und Erwartungen anderer Menschen einzugehen, aber darum, sich nicht solchen Konventionen zu beugen, die irgendwie als Grundlagen gesellschaftlichen Miteinanders gelten, aber doch nur vordergründig eingehalten werden, um einen Schein des Anstandes zu wahren, gemessen an den Denkregeln der Gesellschaft aber keinen rechten Sinn ergeben. Jedes, „man tut dies, weil es sich so gehört“ ist als Handlungsmaxime zu verwerfen, und statt dessen ein „ich tue dies, weil ich dies aus folgenden Gründen, die ich zur Disposition stelle, für sinnvoll erachte“ zu fördern und zu fordern. Dann kann man vortrefflich und ehrlich über die Gründe und die zu erwartenden Konsequenzen diskutieren. Meines Erachtens ist ein kreativer Ekklektizismus der Werte, die man zu Grundlagen seines Handelns macht, einer unkritischen Übernahme überlieferter Werte vorzuziehen, immer vorausgesetzt, man übernimmt für die selbst vorgenommene Auswahl auch die Verantwortung und folgt nicht einfach Lust und Laune, sondern dem sorgfältig explorierten und gerechtfertigten eigenen Willen.
Eine gute Möglichkeit, den eigenen Willen zu erforschen, bietet die buddhistische Achtsamkeitsmeditation, in welcher man still dasitzt und auf die Empfindungen und Wahrnehmungen von Körper und Geist achtet, ohne sie zunächst zu beurteilen. So kann man erkennen, welche Regungen aus einem hervorwollen, und man kann sie annehmen und akzeptieren, dann aber auch überprüfen, ob sie einem heilsam oder unheilsam erscheinen. Ob man bei dieser Überprüfung nun aber den Bewertungen des Buddha oder anderer Meister folgt oder die eigene Lebenserfahrung zur maßgebenden Grundlage macht, ist wiederum eine Entscheidung, die man verantworten muss.
Eine gute Möglichkeit, einer Sache diskursiv auf den Grund zu gehen und die eigenen Fragen und Antworten ehrlich zur Diskussion zu stellen, bietet das sokratische Gespräch. Man sagt, was man zu sagen hat, ohne dabei unterbrochen zu werden, hört einer anderen Darstellung zu, ohne den Gesprächspartner zu unterbrechen, und geht dann gemeinsam der Begründung des Dargelegten nach, wobei man sorgfältig zwischen eigenen Erfahrungen und Schlußfolgerungen und einfach Übernommenem unterscheidet. So kann man sehr schön herausfinden, inwieweit man eine Sache wirklich verstanden oder nur Definitionen auswendig
gelernt hat.
Mir scheinen diese beiden Methoden sich gegenseitig sehr schön zu ergänzen. Die Achtsamkeitsmeditation alleine läßt einen schnell unkritisch werden gegenüber Infiltrationen von außen und damit gegenüber Fremdsteuerungen, von denen einem erklärt wird, sie entstammten eigener Meditationserfahrung. Solches geschah zum Beispiel in Japan zur Zeit des Imperialismus, in welcher den Zen-Praktizierenden weisgemacht wurde, die Loyalität gegenüber dem Kaiser und das Töten von Feinden Japans entsprächen mahayanabuddhistischer Ethik. Eine diskursive Erörterung philosophischer Probleme alleine läßt einen schnell vergessen, dass wir nicht nur rationale Kopfmenschen sind, sondern zahlreiche, kontextuell sinnvolle Emotionen ihr Recht einfordern, unser Handeln zu bestimmen. Beide Methoden zusammen aber, in ihrer gegenseitigen Überprüfung, ergänzen sich sehr sinnvoll.
Es läuft also doch auf die oben schonmal erwähnte Selbstverwirklichung hinaus, wobei „Verwirklichung“ hier eine Doppelbedeutung hat, von „Wirklichkeit erkennen“ und „Wirklichkeit erschaffen“. Wie sehr unsere Vorstellungen von der Welt ihrem tatsächlichen Sosein, wie es außerhalb unserer Wahrnehmung ist, entsprechen, entzieht sich immer mehr meiner Beurteilung, je mehr ich mich mit dem Konstruktivismus beschäftige. Ausgehend von Sinneseindrücken erschaffen wir uns jedenfalls die Welt in ihrer Bedeutung für uns selbst. Es besteht also eine Interpretation von Empfindungen und eine Projektion der Interpretationen auf eine Matrix. Diese Projektion in ihrer Gesamtheit aber ist erst eigentlich Welt und Wirklichkeit. Dieser Dreischritt von Empfindung, Interpretation und Projektion ist zugleich ein rezeptiver und ein konstruktiver Prozess. Die Schwierigkeit besteht in dem Drahtseilakt zwischen den Vorstellungen entweder nur einer richtigen Art und Weise, diesen Prozess zu bewerkstelligen oder eben der vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber derartigen normativen Vorstellungen, also zwischen Fundamentalismus und Beliebigkeit in Fragen von Welterklärung und Sinndeutung. Und bzgl. des zu verwirklichenden Selbstes ist es nicht anders als mit anderen Objekten der Realisierung: es ist ein Zusammenspiel von Wahrnehmung und Wahrmachung, von Vorfindung und Erfindung. Bisweilen tut es not und gut, ein Konstrukt, das als allzu willkürlich und unrealistisch erscheint, zu dekonstruieren, indem man es zurückführt auf die zugrunde liegenden Empfindungen und auf die Interessen, die hinter den Interpretationen liegen. Dabei kann man aber nicht stehen bleiben, denn alleine mit den zusammenhanglosen Bestandteilen einer möglichen Welt können wir Menschen nicht leben, sondern wir müssen es rekonstruieren oder neu konstruieren, am besten nach bestem Wissen und Gewissen. Die optimale geistige Reife für den richtigen Umgang mit diesem Problem nenne ich „Weisheit“, das wahre Ziel der Philosophie (bzw. Filosofie).
Gerade im Diskurs mit anderen Menschen kommen Übereinstimmungen und Unterschiede zu Tage, und es gibt die konstruktivistische Überzeugung, dass das wahr ist, was in einem solchen Diskurs von der den Diskurs führenden Gruppe von Menschen als wahr anerkannt wurde. Demzufolge gibt es in unterschiedlichen Gruppen unterschiedliche Wahrheiten, die sich wiederum in einem Diskurs zwischen den Gruppen zu einer für beide oder mehrere Gruppen gültigen Wahrheit vereinen, entweder indem eine der vertretenen Gruppenwahrheiten über die andere(n) siegt oder indem Kompromisse oder Synkretismen eingegangen werden. Nun stellt sich aber doch die Frage, ob diese diskursgebürtigen Wahrheiten auch eine Entsprechung in dem Bereich haben, der unabhängig von Wahrnehmung und Diskurs existiert. Diese Frage betrifft z.B. auch die menschliche Freiheit. Wenn eine Gruppe zu der Anschauung gelangt, der Mensch habe eine Freiheit des Willens und eine andere zu der, der Mensch sei auch in seinem Willen determiniert und eingebunden in ein Netz aus Ursachen und Wirkungen, welche Gruppe hat dann recht? Oben bin ich schon auf dieses Thema eingegangen und habe die Antwort offen gelassen. Fest steht jedenfalls, dass die Beantwortung dieser Frage schwerwiegende Folgen für das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft hat. Ein Offenlassen der Antwort scheint mir die beste Möglichkeit zu sein, um nicht eine ganze Gesellschaft auf eine diskursiv gewonnene Wahrheitsfestlegung zu verpflichten, und das scheint mir im Fall aller Fragen das Beste zu sein, die dermaßen komplex und in Bezug auf eine eindeutige Interpretation von Sinneseindrücken transzendent sind. Wir müssen es lernen, angesichts der ungeheuren Komplexität der Welt, die einerseits eine Projektion unseres Geistes ist und deren Teil andererseits eben dieser unser Geist ist, mit offenen Fragen zu leben. Der Projektor ist ein Teil der Projektion, die er projiziert. Das klingt schon verrückt! Ich kann die Fundamentalisten verstehen, die solche Sätze ablehnen und nach eindeutigen Wahrheiten dürsten. Sollen sie sich ruhig ein sicheres Gerüst bauen, ein eindeutiges Gitternetz, das sie auf die Matrix legen, wenn es ihnen hilft, glücklich zu sein, sofern sie damit keinen Schaden anrichten, außer dass sie vielleicht sich selbst betrügen! Das ist wie mit Alkoholikern: Wenn sie das Dasein im Rausch besser ertragen, sollen sie sich ruhig betrinken, solange sie damit niemandem sonst schaden! Der Eine braucht eine Droge, der Andere ein sicheres Weltbild, soll doch jeder nach seiner Façon selig werden! Ich wünsche mir jedoch, dass der Alkoholiker weiß, dass sein Rausch unter Alkoholeinfluss zustande kommt und die Wirklichkeit ohne Alkohol anders aussieht und dass der Fundamentalist weiß, dass er ein stabiles Weltbild braucht, damit seine Psyche stabil ist, und dass die Wirklichkeit für sich nicht auf diese Weise festlegbar ist, sondern nur die Wirklichkeit für ihn. Vielleicht wären aber Rausch und Fundamentalismus witzlos, wenn ihre Anhänger um ihre Bedingtheit wüssten. Gut, wer sich gerne betrinkt, weiß wie es ist, wenn die Wirkung nachlässt, aber wer von der Plausibilität eines eindeutigen Weltbildes überzeugt ist, kann nicht leicht auf die Metaebene wechseln und sein eigenes Weltbild von oben oder außen betrachten. Könnte er dies wirklich, wäre es nicht sein Weltbild, sondern nur ein Gedankenspiel. Wer aber wählt sich ein Weltbild, von dem er weiß, dass es letztlich nur ein Gedankenspiel oder ein seinen psychischen Bedürfnissen adäquates Konstrukt ist, als sicheres Fundament? Wer die konstruierte Natur unserer Weltbilder erkannt hat, neigt doch eher dazu, in das Extrem der Beliebigkeit abzutriften, das aber letztlich jedes menschliche Miteinander unmöglich macht, da jede Gemeinschaft nichtinstinktgesteuerter Wesen Werte und Normen braucht, an deren Gültigkeit und Wahrheit ihre Mitglieder glauben.
Was also ist zu tun?
Nun ist es ja so, dass selbst der freieste Geist nicht einfach so aus sich heraus existiert, sondern auch seine Gedanken, Gefühle, Stimmungen, Meinungen, Urteile und damit seine ganze Selbst- und Weltwahrnehmung und –konstruktion auch beeinflusst durch seine spezielle kulturelle Sozialisation ist. Das was wir von anderen Menschen wahrnehmen, beeinflusst uns. Teils übernehmen wir es, teils lehnen wir es ab, aber selten lässt es uns völlig unberührt. Die kulturelle Sozialisation ist ein Teil unserer Identität. Das Beste scheint mir nun, diese sozialen Wurzeln kritisch und kreativ zu pflegen und so unsere soziale und unsere individuelle Identität zu einem harmonischen Ganzen reifen zu lassen. Dazu ist es aber notwendig, dass wir uns mit der Geschichte unserer Kultur beschäftigen, sowohl mit der Geschichte der äußerlich realen Begebenheiten, als auch mit der Geschichte der Ideen. Wir sehen dann bald, dass realpolitisches Verhalten und normative Vorstellungen keineswegs immer identisch waren und auch weiterhin nicht sind. Das kann dann teils daran liegen, dass die Menschen vordergründig Moral predigen, hinten herum aber diese selbe Moral nicht leben, aber auch daran, dass eine völlig unrealistische Moral gefordert wird, die uns Menschen überfordert. Damit müssen wir uns kritisch auseinandersetzen und unseren Weg auf diesem Drahtseil finden. Man kann tatsächlich aus der Geschichte lernen, wenn die selbe auch immer wieder beweist, dass der Mensch an sich es nicht tut, wohl weil jeder neugeborene Vertreter unserer Art seine eigenen Erfahrungen machen will oder aber weil er nicht lernen will oder weil er zwar lernen will, aber andere Schlüsse daraus zieht oder gänzlich andere Wertvorstellungen hat als mir jetzt vorschweben.
Ich habe als hohen moralischen Wert die Wahrhaftigkeit erkannt (oder erfunden?). Dazu gehört, dass ich keine Moral predigen will, die ich nicht einhalten will oder kann. Dazu gehört, mir (und vertrauenswürdigen anderen) einzugestehen, wenn ich zu hohe Forderungen an mich gestellt habe, denen ich nicht nachkommen kann. Diese Wertschätzung der Wahrhaftigkeit habe ich nicht willkürlich erfunden, sondern sie entwickelte sich in mir durch Einflüsse zahlreicher Menschen der Vergangenheit und Gegenwart. So mancher sagt aber, ich lernte nicht aus der Geschichte, denn selbige lehre doch, dass wahrhaftige Menschen immer wieder auf der Verliererseite stehen und die Lügner und Betrüger die Gewinner sind. Es ist wohl doch nicht so einfach, aus der Geschichte zu lernen. Jedenfalls lebt in mir der Traum einer reifen Menschheit, die immer weiter reift, lernt und an Weisheit zunimmt. Und diese Utopie ist ein Bestandteil meiner Kultur, und vieler Kulturen der Menschheit. Nähme man mir diese Utopie, diesen Traum, nähme man mir einen wichtigen Teil meiner Identität, meiner Person.
Ich glaube daran, dass eben dadurch, dass jeder Mensch auch Ergebnis einer Sozialisation ist, er auch Ursache der Sozialisation anderer Menschen sein kann. Nun ist es so, dass wir Menschen nicht nur Vernunftwesen sind, sondern viel ältere Triebe uns viel mehr steuern, als wir manchmal wahrhaben wollen. Der Herdentrieb ist einer davon und für diesen Essay besonders wichtig. Er führt nämlich dazu, dass man sich gerne als Teil einer Gruppe, deren Schutz vor den Gefahren des Lebens man genießt und nicht verlieren will, empfindet und eine Gruppenidentität dadurch mit aufbaut, dass man sich den Verhaltensweisen, die man bei den anderen Gruppenmitgliedern beobachtet, anpasst. Dieser Trieb ist durchaus zweckmäßig, da er die Gruppe zusammenhält, was auch für den Einzelnen existenzielle Sicherheit und psychische Stabilität bedeuten kann. Das führt dann oft dazu, dass abweichendes Verhalten geächtet wird, weil die Vertreter der Gruppennorm Angst vor einer gruppenzersetzenden Wirkung des abweichenden Verhaltens haben, was unter Umständen das Leben der Gruppenmitglieder gefährden kann. Dieses Devianzabwehrverhalten ist uralt und schon bei Tieren anzutreffen, wird also wohl nicht durch unser Großhirn gesteuert, doch das weiß ich nicht genau. Meines Erachtens liegt diese Verhaltensweise auch religiösen Apostasieverfolgungen zu Grunde.
So zweckmäßig für den Gruppenzusammenhalt auch Gruppennormen sein mögen, so wenig müssen diese Normen vernünftig sein. Und gerade hier setzt meine Kritik an. Wir befinden uns nicht mehr in einer gesellschaftlichen Situation, in der jedes Verhalten von Gesellschaftsmitgliedern uniformiert sein muss. Vielmehr ist es so, dass die einzelnen Untergruppen der Gesellschaft einander überlappen und viele oder gar alle Menschen zugleich Mitglieder verschiedener Untergruppen sind oder gar verschiedener Großgesellschaften, wie Staaten oder Ethnien. Wenn man davon ausgeht, dass wir Menschen uns in erster Linie an überschaubaren Kleingruppen orientieren und uns mit ihnen identifizieren, wie die Verhaltensforschung lehrt, dann kommen wir unter Umständen ganz schön in Schwierigkeiten, wenn wir wie ein Chameleon bei jedem Wechsel von einer Kleingruppe, deren Mitglied wir sind, z.B. die Firma, in der wir arbeiten, in eine andere, z.B. ein Verein, unsere Verhaltensweisen wechseln müssen. Okay, es gibt Leute, die meistern dies vorzüglich und legen je nach Kontext eine andere Maske an. Das lateinische Wort für Maske ist persona, doch bezeichnet unser heutiges Personverständnis eben nicht nur die gesellschaftliche Rolle, die ja je nach Kontext wechseln kann, sondern unsere unverwechselbare und unaustauschbare Identität. Diese Identität ist Sitz unserer Würde, nicht die ein oder andere Rolle, die wir annehmen. Damit möchte ich nicht bezweifeln, dass es unter Umständen sinnvoll und notwendig ist, einem Amt eine besondere Würde zu verleihen, die unabhängig von seinem Inhaber ist. Idealerweise aber wachsen unsere Rollen aus unserer Identität heraus und sind das nach außen Sichtbare unseres wahren Seins. Ist das nicht so, ist jede Rolle bloßes Spiel, eine Maske, deren Image sehr anfällig für Entlarvung ist. Imagepflege in diesem Sinne lehne ich ab. Imagepflege ist aber da notwendig, wo es darum geht, unsere wahre Identität kommunizierbar zu machen, denn Missverständnisse gibt es immer wieder. Dazu soll unter anderem auch dieser Essay dienen.
Kommunizierbarkeit erfordert es bisweilen, Kompromisse einzugehen. Wenn man dazu nicht fähig ist, droht der Eigensinn zu einer fanatischen Ideologie zu werden, die auch ihrem Inhaber nicht viel nützt, soweit er nicht in der Lage ist, vollkommen autark und ohne Sozialkontakte zu leben. Es gibt zwischen originalgetreu tradierter Volksmusik und Freejazz immer auch sinnvolle Zwischenstufen, um es mal musikalisch auszudrücken, wobei auch nicht zu vergessen ist, dass auch traditionell gespielte Musik immer in der ein oder anderen Weise von ihrem Spieler interpretiert ist und dass auch Freejazz irgendwo an schon vorhandene Musiken andockt. Übrigens sind mir, was Musik anbelangt, die Traditionsbewahrer und die freien Experimentalisten in gleicher Weise sympathisch, und das eigentlich nicht nur in Bezug auf Musik, denn beides, das Bewahren und das Experimentieren beweisen gerade in unseren Zeiten, die von ständig sich wechselnden Moden bestimmt sind, bei denen die Meisten eher Mitläufer als Akteure sind, eine ordentliche Portion Eigensinn. Die ideale Umgangsweise mit Kultur ist meines Erachtens gut in dem Spruch Gustav Mahlers ausgedrückt, der auf S. 1 im Programm des 2002er Tanz & Folk Festes in Rudolstadt abgedruckt ist: „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.“
Der Umgang mit Kultur, der mir nicht behagt, ist der der rein kommerziellen Zielgruppenausrichtung, wenn z.B. nur solche Musik produziert wird, von der sich die Auftraggeber oder auch die Produzenten erhoffen, möglichst viele zahlende Konsumenten zu erreichen. Das Ergebnis mag zunächst eine wettbewerbsbedingte Vielfalt der Musikstile sein, wird aber im Endeffekt eine Totaluniformierung sein, wie bei der Musik, wie sie im von Petr Pandula so genannten „Formatradio“ schon heute landauf landab gespielt wird, eine Popmusik, der man bald nicht mehr anhört, wo sie eigentlich herkommt und wer sie spielt, Hauptsache sie geht möglichst Millionen von Menschen ein und holt ihnen das Geld aus der Tasche. Ich bin nun kein Popmusikkenner, aber für meine Ohren scheint sich seit den 1980ern da nicht mehr viel verändert zu haben, wenn man von Techno absieht, das aber in sich einen sehr starken Hang zur langweiligen Einförmigkeit hat. Nun gibt es aber noch viele andere Musikstile, die ihre Nischen und Szenen finden, wenn sie auch zunehmend an den Rand gedrängt zu werden scheinen. Popmusik ist die musikalische Leitkultur unserer Zeit, international, aber kaum multikulturell, ein Einheitsbrei, immer gleich schön, immer gleich perfekt, wie ein Hamburger von ... na, Sie wissen schon.
Was Musik anbelangt – und Musik mag hier als pars pro toto gelten – idealisiere ich eine Musik, die aus gepflegten Wurzeln sprießt, die sehr tief reichen und auch schon zugeschüttete Quellen zu erschließen imstande sind, von dieser Nahrung bereichert dann aber neue Blüten und Früchte ausbildet, eine anders als die andere. Sicher mag es immer Ähnlichkeiten geben und zeitgenössische Übereinstimmungen und Moden, das soll auch ruhig sein, aber auch Musiker, die dem nicht folgen, müssen ihre Nische haben, ihre eigenen Wurzeln graben und ihre eigenen Früchte reifen lassen können.
So wie mit dem wechselseitigen Aufeinanderangewiesensein von Tradition und Innovation, so ist es auch mit Konvention und Individualismus. Auch ein Freejazzer wird nicht zufrieden sein, wenn seine Musik nur ihm selber gefällt, auch er braucht Bestätigung und Anerkennung. Und auch mein Eigensinn erwächst nicht nur aus mir heraus, sondern auch aus dem Diskurs mit Anderen, und da brauche ich auch Ähnlich- und Gleichgesinnte, damit ich meine Kultur nicht für mich alleine lebe, sondern auch mit anderen teilen kann. Es ist nun aber weder so, dass ich mich – außer natürlich bei demokratischen Abstimmungen über gemeinsame Zielsetzungen – nach einer Mehrheit richte, noch dass ich konfrontativ das Anderssein kultiviere. Je nach Kontext bin ich mal vollkommen mainstreamkonform, mal aber sehr deviant, wie es eben kommt. Das brauche ich nicht zu kultivieren.
Ich möchte dazu gerne ein paar Beispiele bringen:
Als Mensch der gerne Musik hört, bin ich kein seltenes Exemplar. Musik ist überall um uns herum, und wäre es nicht, wenn wir Menschen uns nicht daran erfreuen würden. Dass ich aber kaum Pop- und Rockmusik höre, sondern lieber Folk- und Weltmusik, macht mir schon einige Schwierigkeiten, wenn ich im Radio „meine Musik“ finden möchte. Ich liebe die besagte Musikrubrik, weil sie sich aus vielen unterschiedlichen ethnischen Traditionen speist, bisweilen auch vergessene Traditionen wieder ausgräbt, bisweilen aber jazzig experimentierfreudig daherklingt und auch Anregungen aus Pop und Rock aufnimmt, und das alles nicht so, dass daraus ein Brei entsteht, sondern ein Mosaik unterschiedlicher Stile und Subszenen. Es ist gut mit der Beschreibung von Christoph Dieckmann in der Zeit vom 17. Juli 2002 ausgedrückt, in der er schreibt, dass die 60 000 Besucher des Tanz & Folk Festes in Rudolstadt 60 000 verschiedene Konzerte erlebten. In Rudolstadt – ich war bisher auf zwei TFFs – fühle ich mich unter Sinnesgenossen oder Seelenfreunden, und fühle mich wohl dabei, gerade weil der Haufen der Musiker und Besucher so heterogen und bunt ist, und doch alle sowas wie eine Familie bilden. Ähnlich geht es mit beim WDR-Weltmusikfestival, beim Bonner Folktreff oder bei der Fiddlers Session. Aufgrund solcher Erfahrungen versuche ich durch meine Folkigen Rundbriefe oder als Mitarbeiter des Bonner Folktreffs, diese „meine Musik“ zu fördern und unter die Leute zu bringen.
Als Biertrinker bin ich in Deutschland auch ein Teil des Mainstreams, aber was Pils anbelangt, welches ca. 70 % des deutschen Bierumsatzes ausmacht, so ist mir dies in der Regel zu bitter, und macht bei mir nur ca. 10 % meines Konsums aus. Als Kölschtrinker gehöre ich in Köln keineswegs zu einer Minderheit, dadurch dass ich aber auch Alt liebe, erscheine ich wohl manchem Kölner als Vaterstadtverräter, d.h. würde es scheinen, wenn ich Kölner wäre. Und als Liebhaber süffiger heller und dunkler Biere die z.B. als Export, Spezial oder Festbier bezeichnet werden, oder auch malziger Bockbiere und fruchtiger Weizenbiere, bin ich in Bayern und Baden-Württemberg gut aufgehoben. Und von belgischen Bieren, besonders von dunklen Abdij- oder Trapistenbieren und von säuerlich-frischen Lambicbieren schwärme ich auch, und ebenso von britischen und irischen Ales, Porters und Stouts. Einen Bierpatriotismus, der Fremdeinflüsse verabscheut, und wie er in Deutschland leider weit verbreitet ist, teile ich nicht, wohl aber einen Anti-Bierinternationalismus, der nach amerikanischem Vorbild nur noch Biersorten produziert, die international gehen und sich überall verkaufen, weil sie keinen eigenen Charakter besitzen. Vielfalt erfreut, und das nicht nur auf der Bierbörse mit (laut Plakat) über 650 Biersorten im Angebot. Ich erinnere mich daran, dass bei einem Treffen mit ehemaligen Schulkamerad(inn)en unser ehemaliger Klassenlehrer Helmut Bahr hoch erfreut darüber war, dass wir zu ca. zehnt an einem Tisch saßen und jede(r) ein anderes Getränk vor sich stehen hatte. Was ich damals trank, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich Tee.
Als Teetrinker gehöre ich global gesehen schon einer Mehrheit an, in Deutschland aber einer Minderheit unter lauter Kaffeetrinkern. Meines Erachtens soll jeder trinken was ihm schmeckt und bekömmlich ist, aber dass ich in vielen deutschen Cafés nur eine Sorte schwarzen Tee angeboten bekomme ärgert mich schon, zumal ich von Luxemburg und den Niederlanden, wo auch viel Kaffe getrunken wird, weiß, dass man ohne viel Aufhebens auch mit Beuteltees gut zehn Sorten anbieten kann. Nun, in dem Teetrinkerland Ägypten bekommt man landesweit hauptsächlich nur zwei Sorten, die sich zudem noch sehr gleichen, aber die ägyptische Kultur war mir eh zu uniformiert: ein Volk, eine Religion, ein Tee. Na gut: zwei Religionen und zwei Tees. Aber nur eine Brauerei, die zwei Biersorten herstellt. Nun, vielleicht bin ich Wohlstandsbürger auch nur zu verwöhnt.
Wenn wir nun schon mal die Religion erwähnt haben, so bekenne ich freimütig, dass sie ein Thema mit sehr hoher Zentralität in meinem Leben darstellt. Ich wählte die Vergleichende Religionswissenschaft zu meinem Beruf, ein Fach, von dessen Existenz so mancher Gesprächspartner zum ersten Mal in seinem Leben hört, wenn ich ihm davon erzähle. Als Religionswissenschaftler gehöre ich also wieder mal einer Minderheit an, die es mit ihrem Selbstverständnis zwischen Abgrenzung und Interdisziplinarität nicht leicht hat. Zudem ist das Fach in sich sehr pluralistisch und auch hier gibt es Kämpfe zwischen Vertretern der unterschiedlichen Ansätze, wobei sich auch wieder Mainstream und Minderheiten ausbilden, je nach herrschender Mode mal so, mal so verteilt. Ich selber mag mich da gar nicht festlegen, sehe die Skepsis des empirisch-kulturwissenschaftlichen Ansatzes gegenüber den normativen Ansprüchen von Religionsphilosophen ein, achte aber auch die Religionsphänomenlogen, die eine Religionswissenschaft, die sich allein in positivistischen Methodologien ergeht, als zu eng ansieht, und mache nun selber mit bei dem Versuch, die Religionspsychologie in der hiesigen akademischen Fachwelt zu beheimaten. Meines Erachtens ist es hier wie anderswo: Verschiedene Ansätze ergänzen sich letztlich, wenn sie sich zunächst auch zu widersprechen scheinen. Und da sind selbstbewußte Wissenschaftler, die nicht opportunistisch dem Mainstream folgen, sondern selbigen durch eigene Ansätze sinnvoll ergänzen, nicht weniger wichtig, als die Protagonisten des Mainstreams, denen die anderen hinterherlaufen. Übrigens sind solche Protagonisten ja selber recht eigensinnige Leute, die zudem genug Wirkung auf ihre Mitmenschen ausüben, um sie von ihrer Sache zu überzeugen. Erst in zweiter Linie kommen dann die Opportunisten und die unreflektierten Nachmacher.
In Bezug auf die Religionen und ihre Vertreter und Anhänger ist die Religionswissenschaft gerade deshalb so wichtig, weil sie sich nicht die Wahrheitsansprüche der einen oder anderen Religion auf die Fahnen schreibt, sondern die Religionen so erforscht und beschreibt, wie sie sich mit menschlichen wissenschaftlichen, also nicht metaphysischen oder transzendentalen Erkenntnismethoden erforschen und beschreiben lassen. Aufgeschlossene Gläubige und Praktizierende der Religionen werden sich zwecks Selbsterkenntnis gerne den Spiegel vorhalten lassen, die religionswissenschaftlichen Erkenntnisse und Ideen in ihre Theologien und Philosophien einbeziehen und so wieder neues Forschungsmaterial für Religionswissenschaftler(innen) liefern. Eine kritische und selbstkritische Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen und Theorien der Religionswissenschaft seitens der religiösen Menschen kann diese vor Fanatismus und Extremismus schützen. Gerade darin liegt mein Ziel religionswissenschaftlichen Arbeitens. Und in diesem Sinne engagiere ich mich als Religionswissenschaftler im interreligiösen Dialog, z.B. im Rahmen von WCRP Köln / Bonn, bringe meine Ansichten mit ein und lerne von den Ansichten der anderen, und das alles dient dem friedlichen Miteinander der Menschen.
Gerade im interreligiösen Dialog sind eigensinnige Denker gefragt, die über den Tellerrand der religiösen Vorgaben, in die sie hinein sozialisiert wurden, gucken, die aber auch die wertvollen Früchte der eigenen religiösen und sonstwie weltanschaulichen Sozialisation in das Projekt des wechselseitigen Voneinanderlernens mit einbringen. Von vielen Menschen, denen unser Fach zunächst unbekannt ist, wird aber zumindest in der ersten Idee, die sie davon gewinnen, erwartet, dass wir uns gerade in dieser Richtung betätigen und sind enttäuscht, wenn sie erfahren, dass wir das eigentlich nicht tun, mit Ausnahme einiger eigensinniger Professoren und Studenten, die entweder nicht mehr oder noch nicht den Zwang des Sichanpassenmüssens an den Mainstream der fachinternen scientific Community spüren oder diesem Zwang trotzen. Diese befinden sich in Bezug auf die Erwartungen vieler Mitmenschen also keineswegs in der Minderheit, in den Reihen des eigenen geliebten Faches aber doch.
Und was oben schon erwähntes Röcketragen anbelangt, so befinde ich mich in der jetzigen Kultur unseres Landes und teilweise sogar global in einer Minderheit, wenn man alle Männer aller Zeiten zusammenzählte aber gewiss in einer Mehrheit. Das ist aber gar nicht so wichtig, sondern wichtig ist, dass gemäß meiner Interpretation der Sachlichkeit, mit der ich gelernt habe, an Themen heranzugehen, und gemäß meiner Interpretation der Emanzipation, nach der, wie ich gelernt habe, Männer und Frauen gleichberechtigt sind, es unziemlich ist, uns Männern das Tragen dieses schönen und bequemen Kleidungsstückes durch negative Sanktionen verbieten zu wollen und natürlich erst recht, dass wir es uns selbst versagen, nur weil es geschichtlich bedingt zur Zeit nicht üblich ist. Als Kind lernte ich den Spruch: „Wenn XY in den Rhein springt, springst Du dann auch?“ Nein, man muss wirklich nicht alles mitmachen, egal ob es üblich ist oder nicht, sondern sollte das tun, wovon man selber überzeugt ist. Der Fortschritt der Männerrockbewegung wird aber meines Erachtens nicht über den Weg des Verstehens vor sich gehen, sondern über den der Gewöhnung, zumindest was die Masse der Menschen angeht. Ich wünsche mir, das würde etwas schneller gehen, damit die Nachfrage steigt und die Kleidungsindustrie endlich mal genug Röcke für Männer anbietet, so dass man nicht so lange nach passenden und gefallenden Röcken suchen muss. Ich wünsche mir also, dass das Röcketragen für Männer zum Mainstream wird, allerdings darf daraus kein Rocktragezwang werden.
Als Hermann Hesse-Leser gehöre ich bestimmt auch keiner Minderheit an, oder doch einer recht starken mit guter Lobby, zumindest in diesem Jahr seines 125jährigen Geburtstages, in welchem zahlreiche Veranstaltungen zu seinen Ehren stattfinden, von denen ich leider keine einzige besuchen konnte.
Man sieht also, dass man mit ein und der selben Meinung oder Vorliebe je nach Kontext in der Minderheit und zugleich in der Mehrheit sein kann. Beim sozialverantwortlichen Eigensinn kommt es nicht darauf an, unbedingt etwas Besonderes sein zu wollen und auch nicht, anderen nach dem Mund zu reden, ohne dass man selber davon überzeugt ist. Ein sozialverantwortlich eigensinniger Mensch freut sich, wenn er mit seiner Sicht der Dinge anderen helfen kann, ihren eigenen Weg wiederum zum Wohle der Gemeinschaft zu finden, und er freut sich über Gesinnungsgenossen, mehr jedoch über eigensinnige Gesinnungsgenossen als über bloße Nachahmer und Nachschwätzer. Er geht aber auch seinen Weg, wenn er keine Gesinnungsgenossen findet und verteidigt seinen Standpunkt. Dabei geht er bisweilen Kompromisse ein, um nicht aufgrund einer Ideologisierung von Teilen seines Weltbildes eventuell wichtigere Bestandteile zu gefährden. Ein Märtyrer seines Eigensinns zu werden, halte ich nur in wenigen Fällen für gerechtfertigt. Kompromisse schließt er aber auch aus Liebe zu seinen Mitmenschen, die ihn aus welchen Gründen auch immer nicht verstehen können, was er respektieren wird, wenn er sieht, dass er auch nicht alles versteht, was andere so tun. So gibt es Grenzen des Eigensinns, und oft lässt sich durch geschickte Kompromisse viel mehr erreichen als durch Starrsinnigkeit.
Es geht nicht darum, hochnäsig auf die Menschen herabzublicken, die lieber in der Masse untertauchen, als wie Luther zu sagen: „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ Es geht erst recht nicht darum, die Menschen zu verachten, die sich eben mit dem identifizieren, was 70% der Anderen auch machen, sei es Pils oder Kaffee trinken, Fußball gucken, Popmusik hören oder Hosen tragen. Es soll jeder nach seiner Façon selig werden, aber auch die Verantwortung für seine Façon übernehmen.
Der beste Weg scheint mir jedoch der: Nach sorgfältiger Überprüfung und der Ansicht, dass etwas sinnvoll oder gar notwendig ist, sollte man es tun, auch wenn es unüblich ist, und wenn es einem unsinnig und albern vorkommt, sollte man es lassen, auch wenn es üblich ist.
Es tauchen aus der Masse von Leuten, die, bevor sie eine Meinung von sich geben, erst fragen, ob diese Meinung auch gerade in ist oder vielleicht schon wieder out, immer wieder eigensinnige Menschen auf, vor denen ich viel Respekt habe. Da ist der Religionswissenschaftler, der wacker die Fahnen der Religionsphänomenologie hoch hält und der, der sich tapfer und fleißig darum bemüht, die Religionspsychologie aus ihrem randständigen Dasein zu befreien und der, der wie Parcival nach dem Heiligen Gral nach einer diesem Fach eigentümlichen Methode sucht, um so die Eigenständigkeit des Faches zu retten. Da ist der Radioredakteur, der tapfer und geschickt verhandelt und so verhindert, dass Folk- und Weltmusik auch seine letzten Sendeplätze verliert und die Hobbymusikerin, die zuverlässig ihre Sonntagabende und viel Telefongeld opfert, um einen unkommerziellen Folktreff am Leben zu halten. Da ist der Brauer, der seine Spezialitäten braut, auch wenn er mit Durchschnittsbier mehr Kunden gewinnen könnte. Da sind die Kunden, die unvoreingenommen und neugierig auf Neues zugehen und es testen und nicht nach Mode und in gewissem Umfang auch nicht zuerst nach dem Preis fragen. Da ist die Muslimin, die konstruktiv alternative Interpretationsweisen von Koran und Sunna sucht, weil sie nicht daran glaubt, dass Gott den Männern die Befehlsgewalt über die Frauen gegeben hat. Da ist die christliche Theologin, die sich für den interreligiösen Dialog einsetzt, auch wenn ihre Vorgesetzen das nicht gerne sehen und wenn es ihrer akademischen Karriere nicht förderlich ist. Da ist der Lehrer, der seine Angst vor konventionalistischen Kollegen und lästernden Schülern überwindet, und im Rock zum Unterricht erscheint und sich dann freut, als er feststellt, dass er bei den meisten gut damit ankommt. Da ist der Mensch, der total aus dem Rahmen fällt, weil er sich nicht für Fußball interessiert, und dem die Fußballweltmeisterschaft oder auch die in Tischtennis so egal ist wie sonst kaum was in seinem Leben und der trotzdem seine Freude daran hat, wenn sich Menschen über ein Fußballspiel freuen, sofern sie ihn damit in Ruhe lassen. Da ist aber auch der Mensch, der sein Interesse an Fußball pflegt und dazu steht, auch wenn dies in seiner Clique als nicht gesellschaftsfähig gilt. Solche Menschen sind Rebellen, die für die Republik des Eigensinns gegen die Absolutheitsansprüche des Mainstream-Imperiums kämpfen, und sie sind zu achten und nicht zu benasrümpfen, und zwar während sie leben und nicht erst posthum!
Sozialverantwortlicher Eigensinn hat viele Gesichter. Entwickeln Sie das Ihre!
Nachtrag: Dieser Text entstand an mehreren Abenden im Juli 2002 nach erledigter Tagesarbeit oder zumindest von ihr ermüdet. Auch wenn ich ihn gewissermaßen veröffentliche, muss ich doch zugeben, dass ich so viel Neues nicht geschrieben habe, sondern Vieles von anderen Schreibern schon und auch besser geschrieben wurde. Der Text hat Brüche, Lücken, Wiederholungen und Inkonsequenzen. Auf solche bitte ich Sie, mich hinzuweisen, denn ich kann ihn bei Gelegenheit ja überarbeiten. Jetzt lasse ich ihn aber erstmal so, abgesehen von kleinen Ausbesserungen, die mir beim Korrekturlesen notwendig erscheinen. Sollte sich jemand durch eine Äußerung ungerechtfertigterweise beleidigt oder verletzt fühlen, so bitte ich darum, mich darauf hinzuweisen. Ich bin keineswegs unfehlbar, genau so wenig wie Hermann Hesse. Dieser Text ist nun aber meine eigene Art, die Dinge auszudrücken. Hier sitze ich, und ob ich auch anders kann, mag die Zukunft zeigen. Jedenfalls liebe ich nicht den Großen Bruder!